Heimat-Reise 2011 des Ehepaares Theresia und Heinrich Reiser mit Tochter Henriette Reiser, Mutterstadt


Tscheb kenne ich, Henriette Reiser, schon immer, obwohl ich 1961 in der Pfalz und nicht in der Batschka geboren wurde. Ich kenne Tscheb von den Erzählungen meiner Mutter und meiner Großeltern. Ich  wusste schon mit zwei Jahren wie „Agrasel“ aussehen und „Riwiesel“ schmecken. Als Kinder haben meine beiden Brüder und ich keine gekochten Maiskolben gegessen, bei uns gab es „Kukuruz“, und meine Uroma hat für uns Kinder die besten „Farschierte“ gebraten, die ich kenne. Was war bei uns anders als bei unseren pfälzischen Spielkameraden?  Unsere Eltern Theresia Reiser, geborene Zeiner, und Heinrich Reiser sind beide heimatvertriebene Donauschwaben, sie sind von „drundn“. Mein Vater kommt aus Jabuka im Banat und meine Mutter aus der Batschka, aus Tscheb. Von diesen beiden Dörfern gab es in meiner Vorstellung 1000 Bilder.  Die Bilder meiner Fantasie wurden von meinen Vorfahren „gemalt“. Sie haben mir unzählige Geschichten erzählt. Vom Leben im Dorf, von der Arbeit auf dem Felde und in der Mühle, vom Baden im Fluss, von Flucht und Vertreibung. Diese Bilder wurden 2011 für mich Realität.

Es begann mit einem runden Geburtstag. Meine Eltern haben beide im Jahre 2011 ihren 80. Geburtstag gefeiert, und das Geschenk ihrer drei Kinder sollte eine Vier-Tage Reise in die Heimat sein. Ich sollte die Aufgabe der Reiseleitung übernehmen. Am Mittwoch, den 12. Oktober 2011, flogen meine Eltern und ich von Frankfurt am Main in einer Flugzeit von 1 Stunde und 47 Minuten nach Belgrad. Dort wartete ein sehr mondäner Mietwagen auf uns. Für die nächsten 12 Kilometer vom Flughafen zu unserem kleinen netten Hotel im alten Belgrader Stadtviertel „Senjak“ brauchten wir über zwei Stunden. Das Fahren auf der überfüllten Stadtautobahn im Feierabendverkehr von Belgrad war eine Katastrophe. Im Stadtteil Senjak angekommen, galt Wie findet man im Dunkeln in diesem Geflecht von engen Einbahnstraßen und Sackgassen ohne Navigationssystem zum Hotel? Indem der Vater die kyrillischen Straßenschilder entziffert und auf Serbisch nach dem Weg fragt! An diesem Abend war ich sehr stolz auf meinen alten Vater und seine Serbisch-Kenntnisse haben uns auf unserer kleinen Reise noch so manches Mal weitergeholfen. Am nächsten Morgen ging es dann los. Tscheb war das Ziel des Tages. Nachdem wir mit unserem Mietwagen auf der Autobahn den Ballungsraum von Belgrad Richtung Voivodina verlassen hatten, konnten wir entspannt die Gegend von Belgrad betrachten. Ein fruchtbares Flachland zog an uns vorüber. Die Erde war schwarz und fett. Es gab weite Felder, die zum Großteil abgeerntet waren. Hier standen wohl noch vor kurzem Mais,Korn, Sonnenblumen und Tabak. Wir fuhren durch satte Waldgebiete, kleine Dörfchen, und hier und da konnte man einen Blick auf einen sehr breiten und imposanten Fluss erhaschen – die Donau begleitete unseren Weg. Nach gut zwei Stunden Fahrzeit verließen wir die Autobahn bei Novi Sad, der Provinzhauptstadt der Voivodina, und nahmen die Landstraße durch die Batschka. Nach ein paar Dörfchen auf der Landstraße kam ein gelbes Ortsschild. Mein Vater entzifferte die kyrillische Schrift: „Celarevo“. 

Wir sind in Tscheb.

Unser erster Weg führte zur katholischen Kirche „Maria Himmelfahrt“ am Dorfpark. Welch ein wunderschöner prachtvoller Bau, welch ein trauriger, desolater Zustand. Der Putz blättert von der Fassade und die gelben Backsteine kommen zum Vorschein. Alles ist verwittert. Die Leibungen der Rundbogenfenster bröckeln. Seit wie vielen Jahren hatte keiner mehr diese Kirche gehegt und gepflegt? Die morsche Holztür zum Kirchenschiff war leider verschlossen. Ein alter Serbe, der mein vergebliches Rütteln beobachtet hat, kommt mit einem Schlüssel und lässt uns in die marode Kirche. Ich mache viele Fotos. Sie ist so schön, sie ist so arm. Uralte Farbe platzt von den Wänden, überall sind Wasserflecken. Quer über den Chorraum hat jemand eine Leine gespannt. Hier hängen ein paar Messgewänder. Einmal im Monat findet sich ein katholischer Priester, der für eine Hand voll Tscheber Christen eine heilige Messe liest – in einer Kirche, die 500 Sitzplätze bietet! Links an der Wand sitzt ein unsagbar trauriger Keramik-Jesus auf einem kleinen Sockel und trauert um all die Vertriebenen, die in dieser Kirche getauft wurden und dann, fern der Heimat, in fremder Erde ihr Grab fanden. Ein einzelner Leuchter mit acht schiefen Elektrokerzen „ziert“ die Decke, die Deckengemälde sind vollkommen verblasst. Meine Mutter setzte sich in eine der Kirchenbänke und wurde ganz still. Ich glaube in diesem Moment war sie wieder „zu Hause“. Wir blieben lange.

Zurück auf dem Kirchplatz ging es weiter, am armseligen Pfarrhaus vorbei zur Fabrikstraße. Hier haben mich die beiden mächtigen steinernen Löwen vor dem Kastell der Dundjerski und die moderne Celarevo Bierbrauerei mit dem Schriftzug LAV doch mächtig beeindruckt. Auch das alte Gemeindehaus an der Kirchgass mit seinem kleinen schmucken Türmchen lässt erahnen, in welch hübschem Dorf meine Mutter ihre Kindheit verbringen durfte.

Unser nächstes Ziel war der Friedhof. Das Eingangsportal ist gesäumt von drei schön weiß getünchten Säulen. Die serbischen Gräber sind gehegt und gepflegt, die polierten Grabsteine und Platten glänzen. Die kleine Kapelle ist neu und modern. Ein Quartal des Herrgottackers gehört den Ahnen der Donaudeutschen. Hier liegen die vor dem 2. Weltkrieg verstorbenen Christen. Dieser Teil ist vergrast und verwildert. Es steht fast kein Grabstein mehr aufrecht. Die meisten Gräber hat sich die Natur zurückgeholt. Wir gehen durch die Reihen und entziffern auf verwitterten Grabsteinen schöne alte Namen wie Nikolaus, Katharina, Veronika, Adam und Anna. Vergebens suchten wir nach dem Grabstein meiner Urgroßeltern Eva und Lukas Baumstark. Die breiten Straßen von Tscheb sind fast wie ein Schachbrett angeordnet, klar, gerade und übersichtlich. Wir machen uns  auf zur Kleinhäusler Gass. Dort stand das Elternhaus meiner Mutter, das Haus des Donaumüllers Georg Zeiner und seiner Frau Magdalena. Zur Familie gehörte auch die Schwester meiner Mutter, die kleine Magdalena, die nur 4 Jahre alt werden  durfte. Auf dem ehemaligen Zeiner-Grundstück stehen jetzt neue Häuser. In der Kleinhäusler Gasse lebt immer noch eine Donaudeutsche, Frau Theresia Becker. Hier durften wir bei “Moagstrudl„ und Kaffee zu Gast sein. Bald fand sich ein weiterer Gast aus der Nachbarschaft ein, die donaudeutsche Frau Maria Gacinovic geb.Jancenic (Tochter von Maria Jancenic geb. Speckert). Gerne habe ich den beiden alten Tscheber Damen zugehört. Sie haben von früher erzählt und auch davon, wie es sich heute als Deutsche in Tscheb lebt.

Unser letztes Ziel an diesem aufregenden Tag war die Donau. Ein kleines Stück vor Tscheb liegt das Ried, dann kommt ein Deich und dahinter fließt ruhig und majestätisch die Donau. Hier hatte mein Großvater, Georg Zeiner, eine Schiffsmühle. Mühlen gibt es schon lange nicht mehr auf der Donau, aber der zweitgrößte Fluss Europas ist in der Gemarkung von Tscheb immer noch bis zu 1 km breit und bis zu 20 Meter tief – und so idyllisch. Ich schaute auf das ruhige graue Wasser und dachte an meinen lieben Großvater Georg. Es war Zeit, die Rückfahrt nach Belgrad
anzutreten. An diesem Abend saßen wir noch lange bei einem guten LAV, dem hellen Tscheber Lagerbier, im Hotelzimmer meiner Eltern zusammen und ließen den Tag Revue passieren. Er war für mich traurig-schön. Am nächsten Morgen würde uns das Dorf meines Vaters erwarten. Die Reise in die Kindheit meiner Eltern war als Geburtstagsgeschenk gedacht. Reich beschenkt wurde auch ich. Die Erzählungen von Tscheb und Jabuka sind für mich real geworden. 

Ich denke noch oft an Tscheb – das Bild von einem Dorf.


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