Von Maria Gold geb. Grieshaber (Jahrg. 1932) aus Szentlörinc/Ungarn


Als ich im Heimatbrief den Artikel von den Piffath Frauen über die fünf schweren Jahre, die sie in Russland erleben mussten, las, kamen mir die Tränen. Unsere Mutter, Katharina Moritz geb. Erni (35 J.), ist ja auch dorthin verschleppt worden. Sie starb schon im ersten Jahr der Gefangenschaft an Typhus. Wir drei Geschwister, Eva (8 J.), Hans (9 J.) und ich, Maria (13 J.), waren noch bis 2. Juni 1945 in unserem Haus in Tscheb. Mein zweiter Bruder, Jakob (15 J.), war zu dieser Zeit bereits mit meinem Opa, Franz Erni (60 J.), im Arbeitslager Neusatz interniert. Erni Oma (58 J.) kam jeden Tag von der Mittelgasse zu uns, und wir versorgten das Vieh. Mit Oma kamen wir am 2. Juni 1945 ins Tscheber Lager, zuerst in die Hanffabrik und danach in die Bauerngasse. Bei uns im Haus lebte noch meine Urgroßmutter Grieshaber. Sie war etwa 84 Jahre alt und versorgte sich noch selbst. Sie kam mit Marianne Tillinger in das Lager nach Jarek, wo beide verhungerten. 

Familie Moritz aus Tscheb (um 1941) von li.n.re.: Moritz Katharina geb. Erni, Eva Moritz, Maria Grieshaber, Jakob Moritz, Hans Moritz jun.,Hans Moritz sen.

Damals musste ich, gerade 13 Jahre alt, jeden Tag arbeiten gehen – es war Erntezeit. An einem Abend im Juni 1945 kamen wir von der Arbeit zurück ins Tscheber Lager und alle, die nicht arbeiten konnten, waren weg. Sie mussten ins Lager Jarek gehen. Meine Oma, Katharina Erni, meine 27jährige Tante Apollonia mit ihren drei Kindern, Leni (6 3/4 Jahre), Alwine (5 Jahre) und Manfred (3 ½ Jahre), Tante Anna mit ihren zwei Kindern, meine Schwester Eva und mein Bruder Hans waren unter ihnen. Ich war jetzt alleine, nur Tante Elisabeth Mayer geb. Erni und ihre Tochter Lissi waren noch da und mit ihnen musste ich weiterhin Zwangsarbeit auf den Feldern nahe Tscheb verrichten. Solange wir in Tscheb im Lager waren schickte mich die Tante mehrmals abends in unser Haus, denn dort wohnte jetzt Janno Bacsi, ein Slowake, mit seiner Familie. Ich bat ihn, für meine Geschwister und meine Oma etwas zu Essen nach Jarek zu schicken, damit sie nicht verhungern müssten. Er hat es getan – er war ein guter Mensch – ihm war unsere ganze Habe zugeteilt worden. Als ich wieder einmal in unser Haus ging, war die Familie nicht mehr da. Sie hatten alles mitgenommen, nur Bilder hingen noch an den Wänden. Vom Tscheber Lager kam ich nach Palanka ins Lager, dann nach Futok ins Lager und wieder zurück nach Palanka ins Lager. Hier ist auch Tante Lissi gestorben, sie war sehr krank und stark abgemagert. Sie sagte, dass sie sterben müsse und am anderen Tag war sie tot.

Im Frühjahr 1947 verlangte ich mich ins Lager Kruschewlje. Dort habe ich Erni Oma getroffen. Meine Geschwister Hans und Eva Moritz waren nicht mehr bei ihr. Tante Erni Apollonia mit ihren drei Kindern war auch im Lager Kruschewlje. Sie warteten auf Anna Strauss, denn mit ihr wollten sie flüchten. Man musste dafür zahlen, doch ich hatte kein Geld, war ich doch alleine, ohne Eltern. Tante Erni Apollonia nahm mich mit auf die Flucht. Ich sollte ihren kleinen Sohn Manfred tragen, falls er nicht mehr weiterlaufen könne. Doch er lief die ganze Nacht neben mir her. Ein Mann führte uns, es war der 3. Mai 1947. Vor der Grenze hielten uns Partisanen auf. Wir hatten Angst, erschossen zu werden. Doch sie haben uns ‚nur ausgeraubt‘. Bald waren wir an der Grenze. Keiner kannte den Weg. Die Gruppe von etwa 40 Personen löste sich hier auf. Die einen gingen rechts, die anderen geradeaus. Wir gingen nach links. Es war sehr dunkel. Plötzlich war vor uns ein Graben oder Kanal und keine Brücke darüber. Anna Strauss stieg hinein und trug uns hinüber – sie war danach ganz nass. Später fanden wir eine Hütte und hielten uns dort etwas auf. Da fiel mir ein, dass es der 4. Mai 1947 – mein Geburtstag – war. Ich war 15 Jahre alt geworden und hatte zwei schwere Jahre hinter mir gelassen. 

Oma war im Lager Kruschiwl zurück geblieben. Sie wollte mit Opa nachkommen, sie hatte Kontakt zu ihm. Nun waren wir frei, aber sehr arm. Das erste Dorf, das wir erreichten, hieß Csatalya. Hier verkauften wir das letzte, was wir hatten. Von hier zogen wir nach Baja weiter. Doch es gab dort keine Brücke über die Donau mehr, also mussten wir nach Pecs (Fünfkirchen). Am Bahnhof bekamen wir etwas zu essen und sollten weiter bis Szentlörinc ziehen. Ein Mann mit Pferdewagen war am Bahnhof. Er nahm uns mit und lud uns im ersten Dorf, bei der ersten Familie ab. Hier in Kiralyegyhaza waren Deutsche, die nicht vertrieben worden waren. Wir schliefen bei Peter Schaub im Heuschuppen. Er hatte vier Kinder, daher fanden wir im Haus keinen Platz mehr. Die deutschen Familien brachten uns Milch und etwas zu essen. 

Die Schwester von Peter Schaub hat auch etwas gebracht und hat mich gleich zu ihnen gerufen. Hier gab es auch Arbeit. Noch ein anderer Mann suchte jemanden für die Hausarbeit. Jaks Resbesl hat die Stelle angenommen, ist mit ihrem Kind mit und auch dort geblieben. Die anderen verdienten etwas Geld und dann ging es weiter nach Österreich. Ich wollte auch mit, doch niemandem zur Last fallen. Deshalb blieb ich. 1954 lernte ich hier meinen Mann kennen. Er war auch ein Vertriebener. Fast 55 Jahre lebten wir zusammen. Am 18. Mai 2009 ist er gestorben.

1959 bauten wir hier in Sentlörinc, ganz nah am Bahnhof, ohne Hilfe ein Haus. Es wurde unser neues Zuhause. Ich hatte nur etwas Geld in den sieben Jahren gespart, in denen ich für Familie Böhm gearbeitet hatte. Wir haben zwei Töchter und vier Enkelkinder. Eine Tochter wohnt in Pecs, sie hat einen Sohn, der Arzt ist. Die jüngere Tochter wohnt in Barcs und hat einen Sohn und eine Tochter. Ich lebe jetzt schon fast zwei Jahre allein. Alle kommen gerne zu uns – zu mir. Ich freue mich immer wenn sie kommen, da ich nicht mehr bei bester Gesundheit bin. Meine Familie wollte sehen, wo ich früher zu Hause war. So haben wir einmal die alte Heimat besucht. Zusammen mit Eva Oszwald geb. Erni und ihrem Mann kamen wir in unser Dorf. Es war schön, alles wieder zu sehen, die Schule, die Kirche. Wir besuchten auch die Familie Liko. Gregor Mayer erzählte, dass es damals gefährlich war, mit dem Pferdewagen nach Jarek zu fahren – er hatte es trotzdem getan. 

Wir können ihm nur dankbar sein, dass er damit mehrere Menschen vor dem Verhungern gerettet hat. Auf der Rückfahrt kamen wir an Jarek vorbei. Eva wollte es nicht sehen. Sie war ja mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Peter dort im Lager gewesen. 


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