Im November 1944 wurde mein Vater Johann Speckert (38 J.) vom Gemeindehaus in Tscheb über Batschka Palanka in das Arbeitslager Novi Sad getrieben. Er musste mit anderen Männern, unter Bewachung von schwer bewaffneten Partisanen, zu Fuß dorthin marschieren. An Silvester 1944/Neujahr 1945 wurden diese Verschleppten mit einem Zug in Viehwaggons in das Arbeitslager nach Doschkowka im Donezgebiet, dem Kohlenrevier Russlands, deportiert. Es erwartete sie dort die schwere Arbeit in der Kohlengrube im eisigen russischen Winter. 

Johann Speckert u.Theresia geb. Grieshaber (Großmutter von Magdalena Speckert (Hesse)
li. Johann jr., Vater von Magdalena Speckert, re. Maria verh. Jancenic

Diese Erinnerungen wurden von Renate Hesse nach den Erzählungen ihrer Mutter Magdalena Hesse geb. Speckert (Jahrgang 1928) niedergeschrieben. 

Meine Mutter Theresia Speckert, geb. Piller musste sich mit anderen Frauen der Jahrgänge 1904 bis 1925 an Silvester 1944 in der Schule in Tscheb einfinden. Auch sie mussten nach Batschka Palanka und dann nach Hodschag zu Fuß gehen. Ebenfalls ging es mit dem Zug nach Russland zur Zwangsarbeit. Der Transport bei grimmiger Kälte in Viehwaggons dauerte 19 Tage. Das Ziel war Bogowo/Ukraine. Auch die Frauen mussten die schwere Männerarbeit in der Kohlengrube verrichten. Zu diesem Zeitpunkt war ich, Magdalena, 16 Jahre und meine Schwester Theresia 14 Jahre alt.

Mit unserer Großmutter, Katharina Speckert geb. Grießhaber, blieben wir in Tscheb zurück. In unserer Wohnstube stand noch der geschmückte Weihnachtsbaum. Wir hatten uns vorgenommen, den Baum so lange stehen zu lassen, bis die Eltern wieder zurück sind. Doch daraus sollte nichts werden. Die Partisanen haben alles verwüstet und zertreten.

Damals wussten wir nicht, wo die Eltern sind. Man hörte, dass viele Menschen nach Russland deportiert worden waren.

Magdalena Hesse geb. Speckert

Fünf Monate danach, am 2. Juni 1945, mussten wir Schwestern mit unserer Oma Katharina unser Haus in Tscheb verlassen. Mit den anderen Tschebern, die ebenfalls zu diesem Zeitpunkt aus ihren Häusern geholt wurden, trieb man uns in die Gratis-Hanffabrik.

Bauernhäuser sowie die Hopfendarre und Lagerräume in der Bauerngasse wurden zum Tscheber Lager, eingezäunt mit Stacheldraht und bewacht. Dorthin hatten wir zu gehen, es sollte jetzt unsere Unterkunft werden. In einem der Bauernhäuser war die Lagerküche. Meist gab es Suppe, eine Kelle für jeden. Hier wurde zwar nicht direkt gehungert, doch ausreichend zu essen gab es nicht. Unsere Tante, Maria Jancenic, die Schwester unseres Vaters,hat uns deshalb manchmal heimlich Essen ins Lager gebracht oder etwas Geld gegeben, damit wir uns etwas zu essen beschaffen konnten. Dazu haben wir Mädchen uns genau so heimlich hinaus geschlichen. Ich musste mit anderen Tschebern, älteren Mädchen, aber auch Männern und Frauen in der Seilerei Hadits arbeiten. Die jüngeren Mädchen waren in der Landwirtschaft im Dorf. Meine Schwester Theresia musste Schweine hüten. Das Ehepaar Hadits, die Besitzer Karl und Elisabeth Hadits geb. Mayer, waren längst nicht mehr in der Seilerei. In der Fabrik gab es damals ein Badezimmer, das benutzt wurde. Im Kessel haben wir uns heißes Wasser zum Baden gemacht. Der Aufseher, ein Slowake, wurde dann immer ganz aufgeregt und sagte zu uns: „Wenn das die Elisabeth (Hadits) sehen würde, dass Ihr das Bad benutzt!“ Schlimm war es für uns, zu sehen, wie andere Leute in unser Haus einquartiert wurden. Sie kannten keinen Strom, keine Öfen, wie wir sie hatten. Zum Kochen machten sie Feuer in der Bratröhre und wollten darauf kochen, weil sie es nur kannten, auf offener Flamme zu kochen.

Das wenige Gepäck, das wir mitnehmen durften, haben uns die Partisanen gleich wieder abgenommen. Nun besaßen wir nichts mehr. 

Magdalena Hesse geb. Speckert

Im Frühjahr 1946, als das Lager in der Bauerngasse aufgelöst wurde, mussten meine Schwester und ich mit unserer Großmutter in das Sammellager nach Batschka Palanka und von dort weiter nach Gajdobra gehen. Überall waren sehr viele Vertriebene. Wieder mussten wir hart in der Landwirtschaft arbeiten. Im Herbst 1946 ging es zurück in das Lager Palanka bis zum Frühjahr 1947. Dann kam wieder eine Verlegung für uns. Diesmal in das Lager nach Gakowa nahe der ungarischen Grenze. Von hier konnte Tante Maria (Jancenic) ihre Mutter, unsere Großmutter, herausholen. Ob sie freigekauft wurde oder wie sie rausgekommen ist, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Tante Maria hatte auch schon ein Mädchen ihrer Schwägerin aufgenommen. 

Diese wurde Ende 1944 nach Russland deportiert. Ab jetzt waren meine Schwester und ich – ohne die Großmutter – auf uns allein gestellt. Neuigkeiten über die Verschleppten oder deren Verbleib haben sich überall schnell herumgesprochen. So haben wir dann 1947 in Gakowa erfahren, dass unsere Mutter von Russland nach Deutschland gekommen sei.

Tscheb 1940/41: Familie Johann und Theresia Speckert mit den Töchtern Magdalena (re.) und Theresia (li.)

Sie wohnte bei ihrer Stiefschwester Elisabeth geb. Isemann in Rinteln. Elisabeth war schon während des Krieges nach Deutschland gegangen. Nun stand für uns fest, dass wir aus dem Lager fort mussten, um zu unserer Mutter zu kommen. Gegen Bezahlung gelang uns 1947 die Flucht nach Ungarn. Etwa 10 Personen waren wir, die sich abends auf den Weg gemacht haben. Wir hatten uns in einem Feld versteckt. Soldaten haben uns aber angehalten und uns die wenige Habe, die wir hatten, wieder abgenommen. Aber sie ließen uns laufen und gaben uns noch den Rat, den Ort Gara zu
umgehen, da dort viele Soldaten seien. Mit der Bahn ging es dann weiter durch Ungarn bis an die Grenze zu Österreich, wo wir in ein Sammellager kamen. Es war eine ehemalige Kaserne in Straß in der Nähe von Graz, nicht weit von der Grenze zum damaligen Jugoslawien. 

Nachdem wir entlaust und gesäubert waren, bekamen wir eine Aufenthaltsgenehmigung, mit der wir im Frühjahr / Sommer 1947 arbeiten konnten. Es sollte ja nur vorübergehend sein. Meine Schwester war schon vor mir nach Deutschland gegangen. Ich bin per Bahn mit einer Gruppe bis kurz vor die deutsche Grenze gefahren. Bei Berchtesgaden ging es zu Fuß über die Berge nach Deutschland, nach Straubing. Hier war der Vater eines Mädchens, das mit mir unterwegs war. In Straubing habe ich auch das Ehepaar Hadits getroffen, in deren Seilerei ich in Tscheb zuletzt arbeiten usste. Ich habe ihnen natürlich davon berichtet, auch dass wir ihr Bad benutzt hatten und der Aufseher sich darüber so aufregte. Die Elisabeth musste herzlich darüber lachen.

Von Straubing aus führte mich mein Weg nach Rinteln zu Tante Elisabeth, meiner Mutter und meiner Schwester. Meine Mutter war in Russland an Typhus erkrankt gewesen. Daraufhin durfte sie im Haushalt eines Aufsehers arbeiten und brauchte nicht mehr in die Kohlengrube. Mit einem der ersten Krankentransporte kam sie nach Deutschland. Nach schrecklichen Jahren voller Angst, Verfolgung und Demütigungen waren wir jetzt wieder zusammen. Aber der Vater fehlte. Später haben wir erfahren, dass er in Russland durch Krankheit bereits im Jahre 1946 im Lager Doschkowka gestorben war und dort begraben ist. Er wurde aus Tscheb verschleppt, nach Russland zur Zwangsarbeit deportiert, und wir haben ihn nie wieder gesehen. 

In Rinteln sind wir geblieben, haben versucht, die schlimmen Erlebnisse in den Lagern unter den dort menschenunwürdigen Verhältnissen und vor allem den Verlust der Heimat zu verarbeiten. Wir haben wieder neu angefangen. Geblieben sind schmerzliche Erinnerungen.