
Nach so langer Zeit ist es mir noch heute schwer, über alles nachzudenken, was damals mit uns geschah. Ich fühle es wie eine tiefe Wunde, die zugewachsen zu sein scheint, aber wenn man sie anstößt, tut sie noch immer sehr, sehr weh. Vielleicht ist es auch schon spät darüber zu schreiben, denn gewiss hätten viele Frauen und Männer, die damals älter als ich waren, mehr darüber sprechen können. Ich war ja noch so jung und hatte mit meinem schweren Schicksal zu kämpfen, denn ich verlor nicht nur mein Zuhause, sondern in ganz kurzer Zeit als 16-jährige alle meine Lieben.
Mein Vater wurde am 18. November 1944 auf dem Wege vom Lager Palanka nach Neusatz erschossen, meine ältere Schwester an Silvester 1944 nach Russland deportiert. Um ihre zwei Kinder sorgten sich meine Mutter und ich. So schwer es mir auch fällt, will ich alles aufschreiben, was in meinem alten Kopf auch bis heute nicht ausgelöscht ist. Es soll und darf ja nicht vergessen werden. Über die Austreibung aus den Häusern in Tscheb, das Schreckliche in der Kolonne zu gehen bis zur Gratisfabrik (Hanffabrik), will ich nichts schreiben. Es ist ja im Heimatbrief 2007 auf Seite 65 zu lesen. Es war unmenschlich, wie man mit uns umging. Aber warum? Wem hatten wir jemals etwas zu Leide getan? Nachdem wir am 2. Juni 1945 aus unseren Häusern geholt und durch die Tscheber Gassen in die Gratis-Fabrik (Hanffabrik) getrieben wurden, durchsuchte man uns dort, und alles, was wir bei uns hatten, wurde uns weggenommen. Dann trieb man uns weiter in die Bauerngasse. Soweit ich mich erinnere, waren es fünf Häuser, und zwar das von Marianne Zindl, Peter Stamm, Bauschert, Balger und noch das Haus daneben (den Namen des Hausherrn weiß ich leider nicht mehr), die als Lager umfunktioniert wurden Zwischen dem Zindel-Haus und dem Schmidt Niklos-Haus war das Lagerkommando. Schon am nächsten Tag wurde um die Lagerhäuser ein hoher Zaun von Stacheldraht gemacht. Es waren große Bauernhäuser mit je drei bis vier großen Zimmern, doch es war viel zu wenig Platz für uns alle. Alle Zimmer, Küchen, Abstellräume (Speis für Wintervorräte etc.) und Schuppen waren voll mit Menschen.
Ein jeder suchte, um ein Dach über dem Kopf zu finden, aber viele mussten die Nacht unter dem freien Himmel verbringen. Auch ich schlief mit meiner 54jährigen Mutter, Theresia Morsch geb. Scherer, und den beiden Kindern meiner Schwester, Kathi (12 Jahre) und Marie (knapp 6 Jahre), im Hof von Marianne Zindl. In dieses Haus konnte man nicht rein, weil dort kroatische Kriegsgefangene einquartiert waren. Wie lange Zeit und weshalb sie in Tscheb waren, weiß ich nicht. Nach zwei Tagen gingen sie fort und dann konnten Frauen mit Kindern in diese Zimmer einziehen.
Aber dies war nochmals ein harter Schlag für uns alle, weil die Kriegsgefangenen nicht nur ihre Strohbetten, sondern auch Läuse und Flöhe darauf zurückließen, welche sich dann in wenigen Tagen unter uns verbreiteten. Es war eine schreckliche Plage, ein großer Kampf begann mit dem Ungeziefer. Die ganze Zeit mussten wir kratzen, da das Jucken so schlimm war. Gegenseitig suchten wir uns die Läuse vom Kopf. Einmal sagte eine Frau zu uns Jungen: Ja, Mädl, anstatt ein schönes Kleid am Sonntag anzuziehen müsst Ihr da sitzen und euch lausen!
Wir wussten nicht, ob wir lachen oder weinen sollten. Es gab nichts zur Reinigung, keine Seife, kein Waschmittel. Wir Mädchen hatten lange Zöpfe, wo die Läuse ihre Eier, die Nisse, ablegten. Doch unsere Haare wurden nicht wie üblich geschert. Ich weiß nicht, wem wir das zu verdanken hatten. Da viel zu wenig Platz war für uns alle, wurde in der Hopfendarre, die hinten in einem Bauernhof stand, auch Stroh ausgebreitet. Dort lag im oberen Teil sowie auch unten, ein Mensch neben dem anderen. Auch ich mit meiner Mutter und den Kindern meiner Schwester hatten dort unser Strohlager. Am Fußende waren Ziegelsteine und ein „Weg“ von ca. ½ Meter Breite, damit jeder so an das Strohbett herankam. Über jedem „Bett“ war ein Nagel angebracht, an dem man seinen kleinen Bingl mit den paar Habseligkeiten hinhängte. Manche haben am Abend ihre Sachen auch unter den Kopf gelegt, als Kopfkissen benutzt. Jeden Morgen nach dem Antreten und der Durchzählung wurden wir in Gruppen eingeteilt und wie Verbrecher von Partisanen mit Gewehr zur Arbeit getrieben. Einige mussten in die Tabakfelder, in die Weingärten und überall dorthin, wo Arbeit nötig war. Auch mussten wir in den deutschen Häusern den Kukuruz und die Frucht (den Weizen) in Säcke füllen, die dann mit Lastwagen weggeführt wurden. O wie kribbelte es im Magen, wenn man dies im eigenen Haus tun musste oder das eigene Haus für die neuen Ansiedler putzen musste.
Wir erlebten sehr schwere Tage und noch schrecklichere Nächte. Die Kinder schrieen und weinten Tag und Nacht, und die Augen der Mütter waren voll bitterer Tränen, weil sie den Kindern nichts zum Essen anzubieten hatten. Auch lagen sie anstatt in ihrem weichen und schönen Federbett nun auf hartem Stroh. Die älteren Kinder schrien vor Angst, sie sahen, dass etwas Unmenschliches mit uns geschah, aber sie konnten es noch nicht verstehen. Und dann kam der 19. Juni 1945, der Tag, den gewiss keiner, der ihn erlebt hat, vergessen konnte. Auch an jenem Morgen mussten wir alle im Hof antreten. Die Mütter mit den kleinen Kindern mussten auf eine Seite. Wo die Mütter nicht da waren, sollten die Großmütter, die Kinder bis zu 11 Jahren und die Kranken und alten Männer und Frauen auch auf diese Seite. Wir, die Arbeitsfähigen auf der anderen Seite, wurden in Gruppen eingeteilt und mit einer Wache zur Arbeit getrieben. Ich war an diesem Tag mit mehreren Frauen im Hause von Karl Schrenk. Hinten im Hof war auch eine Hopfendarre.
Dort war alles Geschirr, das man aus den deutschen Häusern dorthin gebracht hatte. Wir mussten Teller zu Teller, Schüssel zu Schüssel usw. sortieren und für die neuen Ansiedler vorbereiten. Plötzlich hörten wir Schüsse und ein Geschrei, das aus der Richtung Bauerngasse kam. Wir ahnten gleich, dass im Lager etwas Schreckliches vorgeht. Erst als wir nach der Arbeit ins Lager kamen, wurde uns klar, was geschehen war. Es herrschte eine Totenstille. Kein Weinen der Kinder, kein Jammern und Klagen der Kranken war zu hören. Alle unsere Lieben waren fort. Als ich in die Hopfendarre eilte, sah ich schon von der Treppe aus, dass das breite Strohbett, auf dem ich mit meiner Mutter und meinen Nichten schlief, leer war. Nur eine Decke und ein kleiner Bingel lag auf dem Stroh. Über das, was dann in mir vorging, finde ich keine Worte, um es zu beschreiben. Ich kämpfte mit meinem großen Schmerz und wusste nur, dass ich jetzt ganz alleine zurückgeblieben war.
Doch ich war nicht die Einzige. Bei vielen war die Mutter mit den jüngeren Geschwistern fort. Auch waren viele Mütter unter uns, die ihre Kinder von 6-11 Jahren jetzt nicht mehr fanden. Es war ein sehr bitterer Tag, den wir erlebt haben. Gewiss schlief in jener Nacht keiner von uns. Doch man ließ uns keine Zeit zum Jammern und Weinen. Am nächsten Morgen mussten wir wieder in die Arbeit- als wäre nichts geschehen.Viel Ungerechtes und große Schikanen mussten wir über uns ergehen lassen. Manche Frauen bekamen Prügel wegen allen möglichen Vermutungen oder unwahren Anschuldigungen. Wir waren hilflos, und wenn wir etwas Unpassendes sagten, bekamen wir einen Stoß mit dem Gewehr in die Rippen. Nachher wurden alle aus der Hopfendarre in die Häuser, in denen jetzt freier Platz war, übersiedelt. Wir wurden immer weniger an der Zahl. Es wurden Gruppen von mehreren Frauen auf die umherliegenden Sallasche zur Arbeit gebracht. Die meisten kamen nie wieder zurück ins Tscheber Lager. Auch ich war mit einer Gruppe von ca. 10-12 Mädchen einige Zeit auf dem Rösserli-Sallasch, welcher früher allen Tschebern bekannt war.
Dort war eine Schweinezüchterei. Wir mussten mit einer Maschine den Kukuruz riffeln. Einige füllten oben den Trichter, zwei Mädchen drehten das große Rad und die anderen füllten den geriffelten Kukuruz in Säcke und brachten die Säcke in ein Magazin. Es war eine schwere Arbeit, aber wir konnten uns Kukuruz kochenund uns satt essen. Das war wichtig für alle. Dann kamen wir wieder zurück ins Tscheber Lager und erneut warteten schwere Tage auf uns. Eine Nachricht nach der anderen kam vom Tode unserer Lieben aus dem Hungerlager Jarek. Es schmerzte schrecklich, aber wir hatten schon keine Tränen mehr. Vielleicht beruhigten uns manchmal die Gedanken, dass unsere lieben Toten alles überstanden und jetzt ihre Ruhe haben, denn wir sahen keinen Weg mehr für eine bessere Zukunft.
Den einzigen Trost und Kraft fanden wirnur noch im gemeinsamen Gebet, wenn wir am Abend auf unseren Strohbetten saßen. Herbst 1945, Regenwetter. Kaum jemand hatte warme Schuhe oder trümpfe. Wir mussten aufs Feld den Kukuruz ernten und nachher das Kukuruzlaub schneiden. Der Balger Tischler und Wenzl Franz, die ihre Werkstatt in einem Haus auf der anderen Seite in der Bauerngasse hatten, haben uns Holzschlappen gemacht, aber die hielten nicht viel ab. Oft kamen wir, bis an die Knie nass, am Abend ins Lager. Immer mehr wurden krank. Es gab keinen Arzt und auch keine Medikamente. Die Kranken kamen in ein Haus auf die andere Seite des Lagers. Auch ich lag mit hohem Fieber in diesem Haus. Wie und wer mich dorthin brachte wusste ich nicht, denn ich war bewusstlos. Erst später bemerkte ich, dass mich eine Frau hochhielt, und eine andere wickelte mir einen nassen, ziemlich heißen Knoblauchzopf um den Hals, dann noch ein trockenes Tuch darüber. Sie steckten mich ins Stroh und deckten mich gut zu, so dass ich schwitzte. Und es hat geholfen. Ich und alle, die dort krank lagen, wurden gesund. Soweit ich weiß, ist im Tscheber Lager niemand gestorben, außer in den ersten Tagen ein kleines Baby. Weihnachten 1945 und Neujahr 1946 verbrachten wir noch in der Bauerngasse.
Später wurden wir in die Fabrikgasse umquartiert und in die Finanzkaserne, in Hoffmanns Haus und in den Saal von Gastwirt Ischtwan. In meinem Elternhaus hatten der Balger Tischler, Welli Schneider und im dritten Zimmer der Schmidt Sattler ihre Werkstätte. In unserer Küche lagen die Kranken. Den Kranken Essen zu tragen gab mir Gelegenheit, in mein Elternhaus zu kommen. Doch das einzige, worüber ich mich freute, waren die Bilder, die ich im Schuppen unter den weggeworfenen Papieren fand, unter denen auch Bilder vom Krippenspiel aus dem Jahre 1937 waren (im Heimatbrief 2010 auf Seite 3 zu sehen). Alles andere schmerzte unendlich und erinnerte mich an meine Lieben und alles, was ich verloren hatte.Es gingen jetzt nur noch einige Frauen, die ihren täglichen Arbeitsplatz hatten, aus dem Lager. Wir anderen lagen den ganzen Tag auf unserem Strohbett. An einem Tag erlebten wir etwas, was ich nie vergessen konnte. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken und es richtig aufschreiben soll, wie arm, hilflos und unterdrückt wir uns fühlten, als wir alle auf die Straße mussten und die Kolonne in Richtung Palanka zog. Weil noch Schnee war und wir wegen der Lastwagen, die hin und her fuhren, nicht auf der Straße gehen konnten, mussten wir – eine hinter der anderen – am Straßenrand ca. 2 km bis zum Jägerhaus gehen. Dort ging es über einen zugefrorenen Donauarm auf die Insel. Eine jede Frau /Mädl bekam dort einen dicken Holzscheid auf die Schulter gepackt und dann mussten wir wieder den
gleichen Weg im Gänsemarsch zurück ins Lager nach Tscheb. Das Holz war für die Lagerküche. Doch der Zurückweg war noch schwerer, weil der Holzscheid nass war. Er schien immer schwerer zu werden, die Hände waren blau und steif vor Kälte. Die Holzschlappen rutschten im Schnee, viele Frauen sind deshalb hingefallen. Die Schultern schmerzten von der Last, wir wurden müde. Ich bin mir sicher, wenn man heute auf einem Bild oder in einem Film dieses Geschehen sehen könnte, dass bestimmt niemand ohne Tränen in den Augen bleiben würde. Anfang März 1946 ging erneut eine große Gruppe aus Tscheb in das Lager nach Neusatz-Jarek. Wieder gab es Tränen und Abschied nehmen. Für viele ein Abschied für immer. Wir Hinterbliebene wurden am nächsten Tag in den Herrschaftshof Dundjerski übergesiedelt und kamen in ein Haus in der Nähe des Viehstalls, wo früher die Knechte wohnten. Es waren eine Menge Leute, auch Männer dabei. Arbeiten mussten wir in der Gärtnerei. Im Herrschaftswald waren die abgefallenen Blätter wegzuführen, die Wege frei vom alten Laub zu machen. Überall, wo man Arbeitskräfte brauchte, mussten wir zupacken.
Als alle Arbeiten getan waren, wurden auch die letzten Lagerleute, zu denen ich nun gehörte, zu Fuß ins Lager nach Palanka getrieben. Ob einige zurückblieben, das weiß ich nicht. Bestimmt geschah so manches Schwere und Böse, dass ich nie erfahren oder schon vergessen habe. Das war das Ende für viele Landsleute und für mich in unserem Heimatort Tscheb.