Deportation der Schwestern Katharina und Maria Piffath aus Tscheb 1944 und ihre Zeit in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern
Verschleppung aus Tscheb: Am 28. Dezember 1944, nach dem Kirchenjahr war es „der unschuldige Kindlstag“, waren wir Schwestern, Katharina Piffath (22 Jahre) und Maria Piffath (18 Jahre), dabei, uns für den Kirchgang zu richten. Maria hatte so lange Haare, dass sie sie nicht alleine kämmen und zu Zöpfen flechten konnte. Während ich, Katharina, dies tat, hörten wir draußen auf der Straße laute Stimmen. Plötzlich kam ein Partisan ins Haus und forderte uns beide auf, in fünf Minuten fertig zu sein und zur Schule mitzukommen. Außerdem sagte er uns, wir müssten zu Fuß nach Altker gehen und dort den Bauern beim Maisbrechen helfen. Diese Aufforderung galt an jenem Tag allen Tscheber Frauen im Alter von 18-30 Jahren.
Die Tscheber Kirchenglocken läuteten zur Messe, als wir von dem bewaffneten Partisan abgeholt wurden und zur Schule mitgehen mussten.
Dort wurden wir registriert und von einem serbischen Arzt und einigen Einheimischen beschaut und für arbeitsfähig befunden.Nach einem Tag und einer Nacht auf den Schulbänken in einem der Tscheber Schulsäle musste sich die Frauengruppe unter Aufsicht bewaffneter Partisanen im Marschschritt auf den Weg in den 30 km entfernten Ort Altker machen. Als die Kolonne von uns jungen Frauen am nächsten Vormittag die Hauptgasse entlang kam,stand an der Ecke Kreuzgasse Herr Pfarrer Nuspl mit zwei Messdienern und segnete uns im Vorübergehen. Auch jetzt läuteten die Glocken unserer Kirche wieder,eine Nonne wurde beerdigt. Es war Freitag, der 29. Dezember 1944, als wir in Richtung Glozan aus unserem geliebten Tscheb getrieben wurden. Bald wussten wir, dass unser Arbeitseinsatz zum Maisbrechen eine Lüge war, denn einer der Partisanen hatte bei einer Tscheberin auf dem Marsch ausgeplaudert, dass wir nach Russland kämen, sie dies aber niemand sagen dürfe. Natürlich hat sie es trotzdem weiter gesagt, und wir waren nun voller Angst und Schrecken. Unter den bewaffneten Partisanen war ein Slowake, den ich kannte. Er lief hinter uns.
Im Sommer arbeiteten er und seine Frau ganz in der Nähe unseres Dorfes, zwischen Tscheb und Gajdobra auf ihrem Sallasch. Sie kauften des Öfteren im Gemischtwarenladen unserer Eltern ein. Auch kamen sie donnerstags nach dem Piaz (Wochenmarkt) an der Tscheber Kirche in unser Geschäft. Als wir jetzt durch Begec liefen – wir Schwestern hielten unsan der Hand – stand die Frau des Slowaken auf der Straße. Sie erkannte mich und auf serbisch rief sie mir zu: „Katja, kuda ide?“ (Katja, wo gehst du hin?) „Neznam“ (ich weiß nicht) war meine Antwort. Kurz darauf kam sie nach Tscheb und sagte zu unserer Mutter, wenn sie das gewusst hätte, hätte sie uns zu sich nach Begec geholt und wir hätten nicht fort müssen. Unser mitgenommenes Gepäck wurde mit Ross und Wagen bis Altker befördert. Kutscher war der Vater von Meixner Nanschi, die auch unter uns jungen Frauen war. Es war Winter, sehr kalt, es schneite und bis Altker war es noch weit. Wer nicht mehr laufen konnte, durfte sich ein Stück Weg auf den Wagen aufsetzen, bis es wieder zu Fuß ging. Den ganzen Tag konnten wir nichts essen oder trinken. Über Bulkes, Petrovac und Schowe erreichten wir das Dorf Altker. In diesem Ort lebten bis Anfang Oktober 1944 nur evangelische Deutsche. Viele Einwohner waren geflüchtet und jetzt standen ihre Häuser leer. Auch das Bauernhaus, in das wir für die nächste Nacht von den uns begleitenden Partisanen eingewiesen wurden. Nicht nur ohne Menschen, sondern auch ohne Inventar war das Haus. Nur in einem Raum stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Darauf saßen zwei russische Soldaten. Wir hatten einzeln vorzutreten. „Chorosch“ (gut/tauglich) hieß es bei allen Frauen. Von einem großen Strohhaufen holten wir uns für ein Nachtlager Stroh ins Haus. Hier blieben wir eine Nacht.
Am nächsten Tag mussten wir Tscheber Frauen bei eisiger Kälte und im Schnee wieder stundenlang weiter marschieren. Das Gepäck mussten wir ab hier selbst tragen bis nach Kula, wo wir das dritte Mal übernachteten. Der kommende Tag war der 31. Dezember 1944. In dieser Silvesternacht wurden wir von Partisanen durch die Straßen von Kula zum Bahnhof getrieben. Dort waren sehr viele Menschen versammelt, sie hatten einiges mehr an Gepäck dabei als wir. Wahrscheinlich wussten sie schon, wohin die Reise gehen sollte.
Rückblick auf die Ereignisse in Tscheb ab Oktober 1944
Seit dem 12. Oktober 1944, an dem Tag,an dem der Tscheber Treck wegen der herannahenden russischen Front Tscheb verlassen hatte, hatte sich für uns, die wir in Tscheb zurückgeblieben waren oder bleiben mussten, das ganze Leben verändert. Wir besaßen kein Fuhrwerk für die Flucht. So blieben wir alle zusammen zurück. Unsere Großmutter wollte auch nicht fortgehen. Mitte Oktober 1944 waren die ungarischen Grenzer und Honved-Soldaten, die seit 1940 in Tscheb stationiert waren, abgezogen. Eine Woche nachdem viele Tscheber – vermeintlich für eine kurze Zeit – weggegangen waren, es war der 20. Oktober 1944, marschierten in Tscheb die Russen mit den Tito-Partisanen und Partisaninnen ein. Sie übernahmen das Kommando im Rathaus. Wir Schwestern, Katharina und Maria, hatten große Angst und versteckten uns drei Tage beim Gabs-Lehrer hinter der Tür der Speis (Abstellkammer). Diese Tür war verdeckt durch einen davor geschobenen Schrank. Wir hatten Glück, wurden nicht entdeckt.
Man hörte von Vergewaltigungen, von Plünderungen der verlassenen Häuser, besonders in anderen Ortschaften. Einmal kam doch ein Russe in unser Haus. Wir sind sehr erschrocken. Er bemerkte dies, wehrte mit einer beruhigenden Bewegung gleich ab und zeigte uns ein Foto von seiner Familie. Unsere Mutter gab ihm Wein. Er tat uns nichts. Trotz großer Angst vor den Partisanen und Russen gingen wir an Allerheiligen zum Friedhof. Wir kleideten uns ganz in Schwarz und zogen die Kopftücher tief ins Gesicht. Gott sei Dank ist uns nichts passiert.
Die Russen waren nur kurz in Tscheb. Die Partisanen und Partisaninnen blieben. Sie haben die Wohnhäuser ausgeräumt. Eine Schulkameradin, sie hieß Jovanka, mit der ich (Katharina), als Kind spielte, kam jetzt als Partisanin in unser Haus. Sie half einem Partisan beim Ausräumen unseres Geschäftes und beim Türen versiegeln. Ich fragte sie, warum sie das tue, wir wären doch immer gut miteinander ausgekommen und wir hätten ihr doch nichts getan. Sie antwortete darauf, dass sie es tun müsse, es sei Befehl. Unsere Geschäftsräume konnten wir ab jetzt nicht mehr betreten. Sie waren versiegelt. In den anderen Räumen unseres Hauses durften wir weiter wohnen bleiben. Die Tscheber Partisanen und Partisaninnen sind dann bald ausgetauscht worden. Es kamen für sie welche aus Obrovac. Beim Fleischhacker Piller in der Küche wurde von den Serben für sie gekocht und dorthin hat man uns zur Hausarbeit geholt. In unser Töpfl bekamen wir in dieser Zeit dort auch warmes Mittagessen eingefüllt. Wir aßen im Stehen, denn Tische und Stühle gab es nicht. Es wurde eine Nähstube eingerichtet. Da wir nähen konnten, mussten wir beide Weißwaren (Bettwäsche) und Kleider für die Partisanenfrauen nähen. Stoffe waren genügend vorhanden, die Läden waren ja von den Partisanen ausgeräumt worden, z.B. auch das Geschäft Strauss-Kaufmann in der Hauptgasse.
Einmal wollten die Partisanen Kuchen haben. Mit unserem Cousin, dem Dölinger Hans, der Bäcker war, mussten wir zum ‚Ernst-Beck’ durch die jetzt leeren Straßen in die Hauptgasse gehen. In der Backstube der verwaisten Ernst-Bäckerei stand noch genug Mehl. Der Dölinger Hans hat dort den Teig gemacht und wir haben von der einen Teigsorte zehn verschiedene Sorten Kuchen und Gebäck im großen Backofen gebacken, einen ganzen Waschkorb voll. Die Partisanen waren zufrieden. Den Advent, sonst die besinnliche Vorweihnachtszeit, erlebten wir mit großem Bangen, da im November 1944 die erste Gruppe der arbeitsfähigen Tscheber Männer (von 15 bis 60 Jahren) und Anfang Dezember 1944 die zweite Männergruppe (von 15 bis 70 Jahren) von den Partisanen aus dem Dorf geholt wurde. An Weihnachten gingen wir sehr bedrückt zur Kirche, nicht ahnend, was uns vier Tage später bevorstand.
Die 20-tägige Deportation nach Russland: Um Mitternacht 1944 wurden wir 55 Tscheber Frauen in Kula von den Partisanen den Russen übergeben und in einen Viehwaggon des bereitstehenden Zuges geschoben und gestoßen. Wir weinten und schrieen, als die Tür des Waggons zugeschlagen und von außen verriegelt wurde. Um 1:00 Uhr in der Nacht fuhr der lange Zug in Kula ab. So unheilvoll begann für uns und alle Deportierten die erste Stunde des Jahres 1945. Völlig machtlos und entsetzt mussten wir Frauen uns, zusammengepfercht wie Schlachtvieh, auf den blanken, eiskalten Boden des Viehwaggons setzen.
Von uns Schwestern hatte jede nur eine Decke und ein Kissen, ein bisschen was zum Anziehen und etwas Proviant in einem Landser-Rucksack mitgenommen, da wir nur auf eine kurze Zeit zur Arbeit bei Bauern in Altker eingestellt waren. Unsere Mutter wollte uns noch Sachen nachbringen und ist deshalb mit einem Kutscher und Wagen nach Kula gefahren. Sie hat uns gesucht, aber nicht mehr gefunden, und keiner konnte ihr sagen, wo wir hingegangen sind. Zu essen und zu trinken hatten wir nur dabei, was wir für die vorgesehenen Tage gebraucht hätten. Ich erinnere mich, dass wir ein Glas Weichselmarmelade dabei hatten, die wir im Waggon – täglich eine Messerspitze – verteilten. Sie reichte bis nach Russland. Jetzt waren wir wie in einem Käfig gefangen, die Fenster mit Brettern zugenagelt. Nur durch die beidseitigen kleinen Luken am oberen Teil des Waggons kam etwas Licht ins Innere. Schlafen war wegen des knappen Platzes nur im Sitzen möglich.
Die Notdurft musste im Waggon verrichtet werden. Dafür war in einer Ecke des Viehwaggons ein Loch im Boden vorhanden, unsere Toilette. Musste jemand „zur Not gehen“, hielten zwei Frauen eine Decke davor. Papier gab es keines. Die äußerst unhygienischen Zustände kann man sich kaum vorstellen. Wir waren geschockt und verzweifelt. Es flossen viele bittere Tränen. Erschöpft kauerten wir aneinandergeklammert am Boden. Tag und Nacht hörten wir das Geräusch des ratternden Zuges und wussten nicht, wo er uns hinbringen würde. Des Öfteren blieb der Zug am Tag auf einem Nebengleis stehen, damit andere Züge mit Nachschub von russischen Soldaten vorbeifahren konnten, es war ja noch Krieg. Deshalb fuhren wir auch manchmal nur nachts. Die Ungewissheit und die Ängste in diesen Tagen waren für alle Frauen zermürbend. Irgendwann gab man uns Brot und Rauchfleisch in den Waggon. Beides war dermaßen hart, so gut wie nicht essbar.
Es war unmenschlich, was mit uns gemacht wurde. Weinen, Wehklagen und grimmige Kälte herrschten in unserem Waggon. Wir hatten seit Tagen nichts zu essen und zu trinken, wurden von Tag zu Tag matter, schliefen oft vor Schwäche ein. Fast bewegungslos hockten wir nebeneinander. Irgendwann wurden wir apathisch.
Der Zug fuhr durch Rumänien (über die Karpaten). An der Grenze zur UdSSR wurden alle Deportieren am 11. Januar 1945 in Jassy* auf Güterwagen der russischen Breitspurbahn umgeladen. Beim Umsteigen von dem serbischen auf den gegenüberliegenden russischen Zug sahen wir das erste Mal, dass auch Männer bei unserem Transport dabei waren und es ein riesig langer Zug war. Später hörten wir, dass es etwa 1.600 Menschen gewesen sein sollen. In diesem Viehwaggon lag Stroh auf dem Boden und von einem zum anderen Ende waren doppelstöckige Brettergestelle als Betten angebracht. Darauf konnten wir uns nebeneinander setzen und die Füße runterhängen lassen, denn zum Liegen war der Platz, wie auch vorher, viel zu knapp für uns alle. Nun mussten wir aber wenigstens nicht mehr auf dem blanken eisigen Boden sitzen. Es gab kein Loch mehr als Toilette. Da unser mitgenommener Proviant längst aufgegessen war, reduzierte sich dieses menschliche Bedürfnis nun mehr und mehr. In der Mitte des Waggons stand einKanonenofen. Anfangs hatten wir etwas Kohle zum Heizen. Dies war nicht ungefährlich, denn beim Rucken des anfahrenden Zuges mussten wir bangen, das der angeheizte Ofen umfallen würde. Während der Fahrt konnten wir manchmal durch den Schlitz des schmalen Lukenfensterchens von der oberen Pritsche aus im Vorbeifahren ein Bahnhofsschild sehen. Aber wir wussten nicht, wo wir waren und wie lange diese schreckliche Fahrt noch dauern würde. Maria wurde unterwegs, es war schon auf russischer Seite in den Karpaten, sehr krank. Sie hatte eine eitrige Angina mit Fieber bekommen, konnte nicht mehr schlucken und sprechen. Ich, Katharina, und Meixner-Tensinger Nanschi hatten sie eingewickelt und stundenlang auf dem Schoß liegen. Sie erkannte mich, ihre Schwester, nicht mehr. Ihr Zustand war bedenklich. Gott sei Dank hatten wir aus Tscheb Kristallzucker und unser „Gschirr“ (Töpfel) mitgenommen. Auf dem wackligen Waggonofen karamellisierten wir den Zucker und übergossen ihn mit dem Wasser, das eine Frau im Waggon noch hatte. Zwei andere Frauen flößten Maria sogleich die sehr warme, fast noch heiße Flüssigkeit ein. Kurz darauf kam von ihr ein heftiger „Gluckser“. Von den Mandeln löste sich in dem Moment der Eiter und kam heraus. Es war wohl ihre Rettung. Hielt der Zug an, verhüllten wir die kranke und schwache Maria in Decken und versteckten sie nach hinten „ins Bett“. Die Bauernmädchen setzten sich auf die obere Bettkante und breiteten seitlich ihre langen und weiten Röcke aus, damit die Kranke nicht von den Russen entdeckt wurde. Die Tarnung gelang, da es im Waggoninnern duster war. Öfters, wenn die Waggontür geöffnet wurde, riefen die Russen: Gibt’s Kranke? Die Kranken haben sie nämlich unterwegs rausgeholt und niemand erfuhr, was mit ihnen geschah. Längst hatten wir kein Holz mehr zum Feuern und es war wieder bitterkalt im Waggon. Wir litten schrecklich unter der eisigen Kälte und dem großen Hunger.
Während der nicht enden wollenden Fahrt erhielten wir nichts Warmes zu essen oder zu trinken. Ich erinnere mich, dass wir einmal Knäckebrot bekamen. Unser Transport wurde ab Kula von russischen Soldaten begleitet und bis nach Russland bewacht. Manchmal hielt der Zug irgendwo auf offener Strecke im Niemandsland an. Dann wurden waggonweise die Schiebetüren geöffnet und wir hörten einen begleitenden Russen schreien: „Dawaj dawaj, brunse!“. Für ein paar Minuten durften wir ins Freie, um dort die Notdurft bei klirrrender Kälte zu verrichten. Alle saßen dann im Schnee nebeneinander. Bei einer solchen Gelegenheit holten wir uns in unserem mitgenommenen Töpfl Schnee zum Auftauen, sodass wir ein bisschen Wasser hatten. Wir mussten uns beeilen, alles musste „dawaj“ gehen. Nach endloser Fahrzeit hielt der Zug am 18.01.1945* auf offener Strecke bei Dnjepropetrowsk/ Ukraine an. An diesem Halt brannten in der tiefen Dunkelheit zur Orientierung einige kleine Lichter (Petroleumlampen). Auf einem freien Gelände durften wir waggonweise aussteigen. In einer Art Baracke bekamen wir die erste warme Mahlzeit im neuen Jahr, eine Borschtschsuppe (Kohlsuppe). Danach *Die beiden Daten gehen aus den Notizen des damals 17jährigen Gymnasiasten Peter Schertz aus Bulkes hervor, der ebenfalls mit diesem Transport verschleppt wurde. Danach fuhren wir nochmals mit dem Zug Richtung Norden über Charkow weiter.
Ankunft im Donezgebiet, dem Kohlenrevier Russlands
Am 20. Januar 1945, nach 20 langen Tagen und 20 endlosen Nächten in dem Viehwaggon und drei Wochen nach unserer Verschleppung aus Tscheb, erreichten wir völlig erschöpft und abgestumpft die von den Russen für uns vorgesehene Endstation Toschkowka, ca. 35 km von Woroschilograd, im Donezgebiet, dem Kohlenrevier Russlands. In Kula war am hinteren Teil des Zuges ein Waggon angehängt worden, aus dem nun auch 17 Tscheber Männer herauskamen.* Bei der Ankunft in der UdSSR schneite es große Flocken. Wir waren im eiskalten, russischen Winter angekommen. In unserem erbärmlichen Zustand schafften wir es kaum noch, bei mehr als minus 30 Grad im hohen Schnee in das einige Kilometer entfernte Lager Toschkowka zu laufen. Nur sehr mühsam kamen wir über die Schneefelder vorwärts. Alle mussten sich gegenseitig halten und vor allem die kranke Maria musste sehr gestützt werden. Mit letzter Kraft erreichten wir das Lager.
Im Lager Toschkowka: Toschkowka war kein Ort, es war ein größeres Gelände, auf dem sich das Hauptlager befand. Dies bestand aus mehreren zerstörten Häusern ohne Fenster und Türen und war von einem zweifachen Stacheldrahtzaun und Wachturm umgeben. Bei der Ankunft bekamen wir wieder eine warme Krautsuppe zu essen. Hier gab es für die russischen Schachtleute einen auf Steinen stehenden Waggon, der, für Frauen und Männer getrennt, innen als Waschraum hergerichtet war. Der Waggon wurde von außen an der Unterseite mit Kohle beheizt. Wer nicht zu krank oder zu schwach war, konnte sich jetzt dort „waschen“. Das Waschwasser war aufgetauter Schnee, den wir vorher in leeren Küchendosen (große Krautdosen) heranschaffen mussten. Es war die erste „Waschung“ nach mehr als drei Wochen. Maria war zu schwach, um sich zu waschen. Wir wurden in ein Gebäude gebracht, in dem es von zusammengepferchten Menschen nur so wimmelte. In unser kleines mitgeführtes Essgeschirr bekamen wir eine klare Suppe mit Bohnenschalen. Es war kaum Platz zum Sitzen. Die Füße haben wir übereinander geschlagen, damit alle nebeneinander Platz hatten. Auch schlafen konnten wir wieder nur im Sitzen. Am nächsten Morgen und an jedem Tag danach, solange wir in Toschkowka waren, wurden wir zum täglichen Schneeräumen eingeteilt. Es gab wenig zu essen. Quälender Hunger und Durst waren längst unsere ständigen Wegbegleiter. Und hier machten wir die erste Bekanntschaft mit Wanzen. Sie fielen von der Decke auf uns. Am 7. Februar 1945 mussten wir Tscheber Frauen zu Fuß mit anderen Verschleppten, wieder im hohen Schnee, vom Lager Toschkowka durch mehrere Ortschaften in das ca. 10 km entfernte Lager Solotoi laufen. Für die bevorstehende Wegstrecke über Berg und Tal hatte man uns harte Filzstiefel gegeben. Unsere Kleidung war bei den außerordentlich hohen Minusgraden bald gefroren. Mit unseren eigenen Schuhen hätten wir nicht querfeldein mit dem Anführer gehen können, da wären uns die Füße erfroren. Während des Marsches kamen wir an ein paar kleinen Häusern vorbei. Als die Menschen uns sahen, kamen sie aus den Häusern, bespuckten uns und riefen: „Gittler pfu“. Es sollte „Hitler pfui“ heißen.
Im Lager Solotoi: Vollkommen erschöpft kamen wir im Lager Solotoi an. In zwei Kasernen mit Fenstern ohne Scheiben wurden wir untergebracht. Todmüde ließen wir uns auf die nackten, nasskalten und mit Reif überzogenen Bretter, unsere Schlafstätten, fallen. Auf den Brettern sitzend haben wir uns alle fest aneinandergedrückt, um nicht zu erfrieren. Wir haben nur noch geweint. Es war für alle so unbeschreiblich schwer. Alles was wir jetzt noch besaßen, waren die beiden Decken und Kissen sowie die paar Sachen, die wir aus Tscheb mitgenommen hatten, und was wir am Leibe trugen. Das einzig Tröstliche war, dass wir Tscheberinnen bis jetzt noch alle beisammen waren. Gegen Morgen wurden wir nach draußen über den Hof zu einer kalten Baracke mit Tischen, auf denen kleine Kerzenlichter standen, getrieben. Auch hier war kein Strom vorhanden. Jetzt bekamen wir eine heiße Hirsesuppe. Sonst wären wir erfroren. Ebenso wie im Lager Toschkowka war auch hier im Lager Solotoi nichts für einen solchen Menschenandrang vorbereitet. Die Zustände waren in jeder Hinsicht katastrophal. Im Lager gab es kein Licht und kein Wasser. Mit großen Töpfen aus der Küche musste Wasser vom nächsten, 3-4 km entfernten Tiefbrunnen auf einem Karren geholt oder getragen werden. Die Verpflegung war sehr, sehr schlecht. Alle Lagerleute litten unter dem unbarmherzigen Hunger. In einem Raum schliefen wir mit ca. 30 Frauen, wie Sardinen in der Dose. Strohsäcke hatten wir in diesem ersten grimmig kalten Winter keine. Viele Deportierte wurden bereits in den ersten Tagen sehr krank. Wegen der Überfüllung der Räume sowie fehlender hygienischer Anlagen kamen bald Läuse und Flöhe und somit die Krankheiten. Medikamente gab es überhaupt keine, auch keinen Arzt.
Die Tscheber Männer und die Männer aus den umliegenden und weiteren Ortschaften der Batschka, die mit unserem Transport ab Kula mitgekommen waren, mussten umgehend einen Stacheldraht um die Kasernen ziehen und Öfen mauern. Kohlen zum Heizen waren vorhanden. In einem Sägewerk schnitten sie Holz zu Stockbetten, so entstanden die Schlafgelegenheiten. Der GPU-Mann (wir alle sagten „Blaukäppel, wenn wir von ihm redeten), war vermutlich ein russischer Offizier. Er kontrollierte ständig im Lager die Männer und suchte nach SS-Zeichen. Im Lager Toschkowka hatte er immer wieder den gleichen Mann zum Verhör bestellt. Dieser ertrug es nicht mehr und wählte den Freitod im Dnepr.
Bevor wir Frauen zur Arbeit im Schacht eingeteilt wurden, mussten wir im Schnee dicke Holzstämme den Berg hinunterrollen und auf die leeren Loren laden. Manche brachen unter der schweren Last zusammen. Das Holz wurde mit den Loren ins Sägewerk gefahren und dort geschnitten. Es wurde zur Abstützung der Kohlenschächte gebraucht. Maria war noch schwach, sie arbeitete deshalb eine Zeitlang im Sägewerk bei den „Schwächlingen“. Der „Sägemann“, für den wir Holz tragen und ausladen mussten, war ein Russe. Er hat nie mit uns geschimpft. Seine Frau hatte eine Ziege, auf die sie sehr stolz war. Sie gab für ihre Kinder täglich Milch. Wir taten ihr leid, und einmal bekamen wir von ihr auch Ziegenmilch. Dabei ergab es sich, dass sie uns ihre Ziege zeigte. So sahen wir auch, wie sie wohnte. Es waren zwei Räume. In einem Raum hing in der Ecke an der Wand eine Ikone, in der anderen Ecke lag die Ziege auf Stroh am Boden. Es waren sehr arme Leute. Eines Tages war das Ehepaar mit den Kindern verschwunden. Zu dieser Zeit wurde es nicht gerne gesehen, wenn Russen mit den Nemtzi (Deutschen) sprachen. Es gab noch weitere Ziegen, die von russischen Frauen gehütet wurden. Wir hörten diese Frauen oft „Raika“, „Katja“ und andere Namen rufen als sie die Ziegen eintrieben. Von dem feinen Ziegenhaar wurden Kopftücher gestrickt.
Bei Kriegsende, Anfang Mai 1945, herrschte großer Jubel bei den Russen. Sie waren stolz, dass der Krieg für sie gewonnen war. Wir mussten acht Tage im Lager putzen und im Hof mit Kalk den „Roten Stern mit Sichel“ auf den Boden malen.
In den folgenden Jahren war der 1. Mai immer ein besonderer Tag, ein Feiertag für die Russen. Hieran erkannten wir dann, dass der Monat Mai begann. Wir hatten keinen Kalender. Hinter Stacheldraht konnten wir mit niemandem reden, wussten nicht mal welchen Monat wir hatten, waren abgeschnitten von der Welt. Mit den Russenfrauen, die täglich aus dem kleinen Nachbarort zur Arbeit kamen, konnten wir uns am Anfang nur mit Händen und Füßen verständigen. Als die Männer die sehr primitiven Schachtanlagen der Kohlengruben in Solotoi instand gesetzt hatten, begann für uns dort die Arbeit. Eine Grube war trocken, die andere war nass. Wir arbeiteten abwechselnd in beiden Gruben, wo wir gerade gebraucht wurden. Es war schwere Männerarbeit. Wir waren geschwächt und sollten sehr viel leisten, aber wir bekamen zu wenig zu essen. 300 Gramm Brot pro Tag und eine magere Suppe. Im Laufe der Zeit gab es 400 Gramm Brot, morgens 200 Gramm und abends 200 Gramm.
Zur Arbeit in die Kohlengrube mussten wir im Winter – bei minus 30 Grad und mehr – etwa vier Kilometer über die Schneefelder laufen, bei jeder Witterung. Den Kopf ganz vermummt, bloß die Augen schauten raus, stapften wir in unserer unzureichenden Kleidung zur Arbeit durch die Schneemassen. So manches Mal hatten wir zu kämpfen mit Schneestürmen auf dem Wege zur Grube oder nach der schweren Arbeit zurück ins Lager. Dann stützten wir uns gegenseitig, indem wir eingehakt gingen. Um die Füße wickelten wir uns alte Lumpen, die, wie auch die andere Kleidung, von einer Schicht zur anderen kaum trockneten. Die Fußlappen waren mit Draht an den Galoschen befestigt und steinhart gefroren. Für die Außenarbeit gab es Filzstiefel bis an die Knie. Vielen, die nicht in der Grube gearbeitet haben, sind bei der Arbeit im Freien die Füße erfroren.
1945 brach die rote Ruhr (blutiger Durchfallinfolge mangelnder Hygiene) aus. Es gab jeden Tag Tote. Karl Tiefenbach aus Tscheb ist daran am 7. September 1945 im Lager Solotoi gestorben. Als sein Bru Fleißes sagten die Russen während der Internierungszeit oft: „Mit den Nemtzi (Deutschen) kann man machen was der Peter und ich, Katharina, mittags von der gleichen Schicht aus der Kohlengrube kamen, lag er schon tot neben anderen auf einer Holzbahre. Peter Tiefenbach, Anna Stamm, seine Freundin aus Tscheb, Elisabetha Ernst und ich gingen mit ihm den letzten Weg, ohne Pope. Ein Russenmann war dabei. Außerhalb des Ortes auf einer Anhöhe in einem Birkenwald beerdigten wir ihn. Neben einer Frau aus Kula fand er die letzte Ruhestätte. Hier lagen schon mehrere verstorbene Deutsche aus dem Lager. Gegen die rote Ruhr gab es keine Kohletabletten. Christine Bles aus Tscheb sagte, dass verbrannte Holzkohle auch helfen könnte. Wir haben deshalb davon etwas gegessen und Wasser drauf getrunken. Wegen der Wanzen musste Tag und Nacht das Licht brennen. Um das Bett haben wir auf das Holz Wasser geschüttet. Wanzen wollen keine Feuchtigkeit. Im Winter sind auch Ratten in den Schlafraum gekommen und haben Brösel gesucht. Die Fenster konnte man nicht zum Lüften öffnen, sie waren ohne Handgriffe. Deshalb mussten wir die Türen offen stehen lassen. Eines Tages brach auch noch Typhus aus. Es war Winter. Als wir abends von der Arbeit zurückkamen, hatten die Russen unsere Strohsäcke in den Schnee ausgeschmissen und desinfiziert. Sie lagen noch nass und kalt im Schnee. Darauf mussten wir schlafen, todmüde nach der schweren Arbeit. Später kam der Bauchtyphus. Die daran Erkrankten kamen in Quarantäne in ein Krankenhaus. Wir anderen erhielten eine Spritze in den Arm. Trotz dickem Arm mussten wir zur Arbeit in die Kohlengrube. Medizin für alle Krankheiten war ansonsten ein weißes Pulver in einem kleinen Briefchen. Katharina bekam es einmal, sie war schon so geschwächt, hatte Wasser bis hoch zum Leib. Es half. Wir griffen zur Selbsthilfe, weißelten, schrubbten, versuchten zu entlausen und auch die Wanzen zu vernichten. Bei uns gab es dann keinen Typhus und keine rote Ruhr mehr. Wegen der Reinlichkeit und des Fleißes sagten die Russen während der Internierungszeit oft: „Mit den Nemtzi (Deutschen) kann man machen was man will, die kommen doch wieder auf die Füße“.
Maria erinnerte sich, dass man 1945 nach der Ernte sich auf einem Feld für den bevorstehenden eisigen Winter einen Strohsack füllen konnte. Auf dem dort zurückgebliebenen Stroh lag bereits Schnee. Dieser Winter 1945-46 war wieder bitterkalt. Täglich musste jeder Kohlen aus dem Schacht mitbringen, damit wir nicht auch drinnen frieren mussten. Die Wasserleitungen froren ein und wir hatten kein Wasser. Zum Kochen musste Wasser vom Brunnen geholt werden. Zum Waschen gab es keines. Von der Lagerleitung wurden zwar Feldpostkarten ausgeteilt, damit wir an unsere Angehörigen schreiben könnten. Doch die Mitteilungen von uns in die Heimat wurden dort alle unterschlagen. Kurz vor Weihnachten 1946 gelang es aber, eine Feldpostkarte über eine Russin, die mit uns arbeitete, aus dem Lager Solotoi zu schmuggeln. Diese erste Nachricht von uns verschleppten Frauen kam in Tscheb an. Von unserem Cousin Hans Dölinger erreichte uns daraufhin eine Nachricht aus Tscheb. Er war damals noch Bäcker in Tscheb und schilderte uns die Zustände, die daheim herrschten, auch wer inzwischen gestorben war. Wir saßen alle da und schluchzten. Es war unfassbar. Wir trugen nach ca. einem Jahr immer noch unsere Kleider aus Tscheb, bis sie ganz verschlissen waren. Danach bekamen wir im Winter blaue Stepp-Arbeitsanzüge, die aus einem ganz harten Material waren und harte Segeltuchhandschuhe für die Arbeit in der Grube. Von Oktober bis Mai regnete und schneite es oft, und wir wurden dann unterwegs, auf dem langen
Fußmarsch, von Kopf bis Fuß nass. Nach der Arbeit, zurück im Lager, zogen wir die nassen Sachen aus und hängten sie zum Trocknen in einen Trockenraum.
Doch manchmal wurde diese Kleidung bis zur nächsten Schicht nicht trocken und wir mussten die Sachen noch feucht anziehen. Für die andere Jahreszeit hatten wir Jute ähnliche Kleidung. Aus der Grube kamen wir immer mit vom Kohlenstaub geschwärzten Gesichtern. Bis wir im Lager ankamen waren unsere Augen vom Weinen ausgewaschen. Wir Schwestern mussten in verschiedenen Schichten arbeiten und sahen uns nicht so oft. Auch hatten wir die Schlafstellen voneinander entfernt. Die Lagerinsassen waren so zusammen in den Unterkünften eingeteilt, wie die drei Arbeitsschichten es erforderten. Jede Schicht hatte andere Zeiten zum Aufstehen, Arbeiten und zum Schlafen. Wenn wir Schwestern uns begegneten weinten wir. In unserer Gruppe arbeiteten auch Russenfrauen und ältere Russenmänner. Die Russenfrauen haben auch Sprengungen vorgenommen. Sie haben die gleiche Arbeit wie die russischen Männer verrichtet. Ihre Männer waren noch im Krieg, manche waren auch schon verletzt oder beinamputiert heimgekommen.
Die Arbeit in der Grube war am schwersten. Gearbeitet wurde rund um die Uhr. Je acht Stunden in drei Schichten. Ohne Pause, ohne irgendetwas zu essen zu bekommen. Die erste Schicht von 7 Uhr bis 15 Uhr, die zweite Schicht von 15 Uhr bis 23 Uhr, die dritte Schicht nachts von 23 Uhr bis in der Früh um 7 Uhr. Bevor wir mit der Schichtkolonne zur täglichen Arbeit losgingen, mussten wir an der Pforte am Wächterhäuschen, wo wir abgezählt wurden, vorbeigehen. Dort saß Tag und Nacht ein Russe mit dem Gewehr. Die Arbeitskolonne wurde täglich von bewaffneten Russen begleitet, auf dem ganzen Weg zur Arbeit und von der Arbeit wieder zurück ins Lager. Ein Marsch dauerte mindestens 1,5 Stunden. Im Herbst, wenn der Regen einsetzte, hatten wir während des ganzen Weges Lehm an den Schuhen hängen und kamen nur sehr mühsam vorwärts. In der Kohlengrube in Solotoi hatten alle eine Grubenlampe (Öllämpchen mit Zylinder), deren Licht für die Zeit der Stunden unter Tage brannte. Darauf musste man aufpassen, sonst konnte es passieren, dass man in der Grube im Dunkeln stand.
Ich hatte im Sägewerk schwere Baumstämme von 0,50 m bis 1,20 m Länge auf die Waggons aufzuladen. Diese wurden an einem dicken Eisendrahtseil, das Tag und Nacht am Laufen war, in einem Rundlauf in das Innere der Grube befördert. Dort benötigten die Männer das Holz zum Abstützen neuer Schachtgänge. Nachdem die Loren abgehängt und die Stämme entladen waren, wurden die leeren Loren in der Grube dann mit Kohle beladen und wieder nach oben befördert. Oben mussten die Loren sehr schnell einzeln abgekuppelt und entleert werden. Zu dieser Arbeit waren Katharina und andere Frauen eingeteilt worden. Aus zwei Schächten kamen ständig Züge mit vier bzw. zehn beladenen Loren zum Entladen an. Das Entleeren der Kohle wurde auf einer Art Holzbrücke (man sagte dazu „Istagat“), in sechs Meter Höhe vorgenommen. Die Kohle wurde auf einen jeweils darunter stehenden Waggon gekippt. Danach hatten die Frauen die Loren wieder schnell an das laufende dicke Drahtseil anzukuppeln, damit diese leer weiter fahren und in der Nähe der Säge wieder mit Holz beladen werden konnten. Das war der Kreislauf. So ging das acht Stunden am Tag und manchmal länger, bis die nächste Schicht kam. Im Kohlenstaub ohne Essen und ohne Pause mussten alle Frauen gefährliche Männerarbeit leisten. In der Grube Solotoi hat auch ein Pferd, dem mit einem Tuch die Augen verbunden waren und das von Männern geführt wurde, gearbeitet. Ich, Katharina, hatte oberhalb der Grube gefährliche Unfälle. Nach einem Sturz durch die Drahtseile blieb ich bewusstlos liegen und musste zurück ins Lager gebracht werden. Ein andermal bin ich an einer morschen Stelle auf der Holzbrücke (Istagat) eingebrochen. Dies war ebenfalls eine sehr kritische Situation, auch hier war ich bewusstlos. Wenn man mich nicht schnell genug hätte herausziehen können, wäre der nächste Waggon über mich gerollt. Ein andermal riss der Seilzug, an dem die Loren hingen. Sie sind dann zu früh abgekippt. Wieder wurde ich verschüttet, konnte mich aber befreien und rauskrabbeln. Ich kam ins Lager bis zum nächsten Tag. Ich wurde auch von Verletzungen auch nicht verschont. Der Waggon hatte mir den Arm schwer gedrückt. Die Finger schwollen daraufhin so stark an, dass ich nicht arbeiten konnte. Daraufhin bekam ich acht Tage Schonung. 1946 und 1947 wurden Krankentransportzüge mit Schwerstkranken aus unserem Lager nach Deutschland zusammengestellt. Manche Tscheber waren schon mit 44 http://www.tscheb.net früheren Krankentransporten, schwer krank oder schwer verletzt, nach Deutschland gekommen. Immer wenn jemand so krank wurde, dass er nicht mehr arbeiten konnte, sagten wir zueinander: „Wenn wir so sind, dürfen wir nach Hause“.
Im Lager Karbonit: Nach eineinhalb Jahren, am 26. Juli 1946, dem Anna-Tag, hieß es, alle vom Lager Solotoi müssen zum Lager Karbonit (14 km vom Lager Toschkowka entfernt) gehen.Ganz entkräftet kamen wir dort an und wurden hinter einem zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun untergebracht. Es erwartete uns das Gleiche wie Anfang Februar 1945 in Solotoi. Der Unterschied bestand nur darin, dass bei der Ankunft in Karbonit nicht die Eiseskälte des vorangegangen Winters herrschte, es war Sommer. Alles musste auch hier erst wieder für eine Bleibe hergerichtet werden. Zweistöckige Schlafstellen von Wand zu Wand. Küche, Waschraum. In der Nähe der Grube war ein bombardiertes Backsteinhaus. Maria musste mit anderen Frauen von dort die Steine abtragen und ins Lager schaffen. Dies geschah mit Hilfe einer Trage, auf die die Steine gelegt und damit ins Lager getragen wurden. Davon wurde ein Waschraum gebaut. Es gab zwei Häuser als Herberge. In einem Haus wohnten die Männer, im anderen Haus die Frauen. An einer Wand schliefen nebeneinander in einem Raum wieder 30 Frauen. Karbonit war das dritte Lager, in das wir kamen. Mit den Namen Petrowna Katja (unser Vater hieß Peter) und Petrowna Marusa wurden wir registriert. Es kam auch ein Fotograf, der von den Lagerleuten Passbilder anfertigte. Maria war gerade in der Schicht als der Fotograf da war, so konnte sie nicht fotografiert werden.
Auch in Karbonit gab es die Läuse-, Flöhe- und Wanzenplage. Für einige Monate mussten wir noch täglich nach Solotoi in die Grube zurück laufen, da die neue Grube in Karbonit noch nicht fertig war. Maria erzählte: Im Jahre 1947 war dann die vom Staat neu erbaute Grube Karbonit fertig gestellt. Zur täglichen Arbeit wurden die Frauen in das vom Lager ebenfalls einige Kilometer entfernte Kohlenbergwerk, in den 4er Kapitalschacht geschickt, 310 Meter tief. Dort war alles dann schon moderner. Mit dem Lift konnte man jetzt in den neuen Schacht hinunterund hinauffahren. Jedes Mal, wenn wir Frauen in den Schacht runter gefahren sind, haben wir uns alle bekreuzigt. Oft haben wir einen Schutzengel gehabt. Unten gab es vier Gänge, in alle vier Himmelsrichtungen. In den Seitengängen standen die internierten Männer an Maschinen, auch russische Männer arbeiteten hier.
Katharina musste auch in Karbonit wieder mit anderen Frauen die „Partien“, die aus etwa 30 Waggons bestanden, abkuppeln und entladen. In diesem neuen Schacht gab es dann elektrische Akkumulatoren. Wenn wir von dem Istagat aus auf unserem Hügel von weitem die Lämpchen der nächsten Schicht in der Dunkelheit kommen sahen, wussten wir, dass unsere Schicht bald zu Ende ist. Uhrzeiten kannten wir nicht, wir hatten keine Uhren. Die Arbeit und die Bedingungen waren wieder sehr schwer. Es erwarteten uns auch hier wieder täglich acht Stunden Schichtarbeit, harte Männerarbeit, ohne Mittagessen und Pause. Oft hatten wir auch eine Doppelschicht, dann waren es 10 Arbeitsstunden. Dazu kamen die langen Wegezeiten, auf denen uns täglich wieder, wie in Solotoi, Wächter „begleiteten“ und uns nach der Arbeit abholten. An einem Dobitsch (besonderer russischer Tag) haben die Russen noch länger gearbeitet, da gab es doppelten Lohn für sie.
Alle anderen vom Lager mussten dann auch so lange mit ihnen arbeiten. Die späteren drei Schichten verschoben sich entsprechend. Sogar als ich, Katharina, später den 24-Stunden-Dienst in der Küche hatte, musste ich, auch wenn ich gerade frei hatte, trotzdem mit anderen Küchenfrauen an einem Dobitsch in die Grube zur Arbeit gehen. Der siebte Tag war kein Sonntag! Auch in der „Freizeit“ mussten wir oft auf der Kolchose arbeiten (z.B. Mais brechen, Kraut ernten, Kartoffel und Korn einholen etc.) oder „Hofarbeit“ verrichten, das war kehren, Schneeschaufeln oder die Militärkasernen (die Unterkünfte) putzen.
Im Winter mussten wir vom Weiher Eis ins Lager holen. Unsere Haare hatten wir längst kurz geschnitten. Der mitgenommene Kamm aus Tscheb, den wir „Läusekamm“ nannten, weil er ganz feine Zacken hatte und daher die Läuse beim Kämmen darin hängen blieben, erwies uns gute Dienste, bewahrte uns vor größerer Plage. Unsere wenigen Habseligkeiten hatten wir unter unserem Kopfkissen liegen. Schliefen darauf. Das Stockbett war somit auch unser Schrank. Einen Stuhl hatten wir nicht. Um auf die obere „Bettenetage“ zu kommen musste man ganz schön die Füße lupfen, denn eine Leiter gab es nicht. Der nagende Hunger war am Schwersten auszuhalten. Wer sich nicht durch Tausch von Kleidern oder sonst irgendwie zusätzliche Lebensmittel besorgen konnte, hatte nicht viel Überlebenschancen. Aus Küchenabfällen haben wir die Kartoffelschalen geholt, gewaschen und auf dem Ofen gebraten. Maria hatte aus Tscheb ein Tintenblei mitgenommen. Das hatte sie im Lager Solotoi gegen ein Kastenbrot eingetauscht. Ein Russe sollte die Namen der Leute notieren, die vom Lager Toschkowka ins Lager Solotoi gekommen waren, hatte aber nichts zum Schreiben. Von ihm bekamen wir im Tausch gegen das Tintenblei das Kastenbrot. Bevor wir zur Schicht losmarschierten, bekamen wir 300 Gramm Brot und einen Brei aus Hirse mit einem EL Sonnenblumenöl. Am Abend gab es immer Borschtschsuppe. Trotz der knochenharten Arbeit in der Kohlengrube gab man uns nur soviel zu essen, dass wir am Leben blieben. Oft waren wir zu schwach um zu arbeiten. Dann sollten wir uns ein wenig an der Arbeitsstelle ausruhen, um anschließend wieder weiter zu arbeiten. So manches Mal mussten wir gemeine Flüche über uns ergehen lassen. Wenn wir Frauen wieder mal arg weinten oder es irgendwie bei der Arbeit Probleme gab, drohte man uns mit der Verlegung nach Sibirien. Damit wollte man uns Angst einjagen. Manchmal wurden wir besonders angetrieben und mussten, z.B. bei einem Dobitsch, Akkordarbeit leisten.
Der Desetnik (es war der Vorarbeiter, wirsagten Zehner) schrie oft bei der Arbeit: Dawaj, dawaj und anderes. Wenn wir ihn kommen hörten sagten wir zueinander: „Der Zehner kommt“. Das verstand er nicht. Zehn heißt auf serbisch „deset“. Einmal wurden die Internierten, die nicht in der Schicht waren, gezwungen „ins Kino zu gehen“. Im Freien mussten sie sich einen Kriegsfilm anschauen, in dem gezeigt wurde, was Deutsche in Russland im Krieg gemacht haben. Der für uns zuständige Leutnant trank gerne Wodka. Manchmal hatte er deshalb kein Geld, um das Wasser am Brunnen zu zahlen. Dann wurde dort die Wasserleitung abgestellt und wir bekamen kein Wasser. Es musste mühsam von fünf bis sechs Mitgefangenen von weit her geholt werden. Dieser Mann hat auch ein Teil des uns zustehenden Essens für seine Zwecke mitgenommen. 1947 bekamen wir einen anderen Leutnant, dann wurde es besser. Es war Mischa, der junge Soldat, den wir bereits aus Kula kannten. Dort hatte er uns abgeholt. Nach dem Verzehr von Essen aus amerikanischen Konservendosen im Lager Karbonit bekamen Maria und zehn weitere Frauen eine schwere Fischvergiftung. Maria musste zu diesem Zeitpunkt immer noch täglich mit einer Frau in die 4 km entfernte Grube Solotoi zur Arbeit laufen. Als sie dort ankam ging es ihr sehr schlecht. Sie war kaum noch ansprechbar und lag während der ganzen Schicht in einer Hütte ohne Licht. Unweit der Grube war ein Haus zur Behandlung, so eine Art Rote-Kreuz-Station. Dorthin ging unser
russischer Aufseher nach der Schicht, holte ein Pferd und brachte Maria, die bereits bewusstlos und blau angelaufen war, damit ins Lager Karbonit zurück. Sie war acht Tage schwer krank und wurde anschließend zwei Monate dem Schneider in der Lagernäherei zugeteilt, um Schachtgewänder zu flicken. Das konnte sie gut, sie war ja Schneiderin. Während dieser Zeit pflegte Maria ein bisschen eine Frau aus Gajdobra. Ihr waren im Winter die Zehen erfroren, da sie keine Filzstiefel anhatte. Maria sah, wie ihr alle Zehen – bis auf den großen Zeh – abfielen. Maria erzählte: Nach der Zeit in der Näherei musste ich nicht mehr nach Solotoi, sondern wurde in Karbonit zur Arbeit eingeteilt. Am ersten Tag, als ich in die Grube kam, war gerade ein schlimmer Unfall passiert. Entsetzt und voller Angst sah ich die schwer verletzte Marianne Eichhorn aus Gajdobra auf der Bahre liegen. Sie wurde gleich wegtransportiert. Ein Fuß musste amputiert werden. Sofort hatte ich den Arbeitsplatz der gerade schwer Verunglückten einzunehmen. Hier arbeitete ich die letzten beiden Jahre als Streckenfahrerin mit einer russischen Maschinistin. Ich musste Gleise umlegen (Weichen stellen), Waggons schnell ein- und aushängen, manchmal auch abschüssige Strecken fahren. Für diese gefährliche und Kräfte zehrende Arbeit hatten wir nur unsere Grubenlampen zur Verfügung. Katharina brach sich Anfang Oktober 1947 in ihrer Schicht ein Schlüsselbein. Als die Lore kam, musste sie sich blitzschnell an die Wand stellen und den Kopf
an die Wand drücken, da die Durchfahrt so eng war. Dabei hat sie es erwischt. Sie war krank geschrieben, hatte sechs Wochen den Arm in der Schlinge. Danach wurde sie in die Küche zur Arbeit eingeteilt. Dort war sie dann die letzten zwei Jahre während aller drei Schichten (24 Stunden an einem Stück) bei der Essenausgabe in der Küche beschäftigt. Danach gab es 24 Stunden frei.
Im Essraum hingen Portraits von Stalin, Lenin und Grotewohl. Es gab jeden Tag Tote im Lager und immer wieder schwere Unfälle im Schacht, auch mit Todesfolgen. Ein Mann aus Gajdobra kam bei einer Sprengung in der Kohlengrube ums Leben. Der russische Sprengmeister ließ bei dieser Sprengung zu wenig Zeit (er hat zu wenig gezählt), bevor der Mann in Deckung gehen konnte.
Fluchtversuch und Flucht aus dem Lager
Im Jahre 1947 waren im Sommer zwei Brüder aus Novoselo aus unserem Lager geflohen, doch sie wurden bald gefasst. Nachdem die beiden zurückgebracht worden waren, hat man sie zuerst blutig geprügelt. Anschließend mussten sie im Hof eine Grube graben und zwei Tage und Nächte darin ausharren. Darüber war ein Bretterverschlag angebracht. Die Frauen und Männer, die gerade im Lager und nicht in der Schicht waren und sich von der Arbeit hätten ausruhen müssen, mussten rausgehen und dem Geschehen zuschauen. Es sollte eine Abschreckung für alle Gefangenen sein, damit keiner mehr die Flucht wagen würde. Die beiden Männer sind nach einigen Tagen weggebracht worden. Eine fast unglaubliche Geschichte trug sich dennoch zu:
Im Lager Karbonit war auch ein deutscher Gefangener aus Neusatz. Er kam uns und wir ihm bekannt vor (das Aussehen von allen war ja verändert, wir waren alle sehr abgemagert). Eines Tages ergab sich die Möglichkeit miteinander zu sprechen. Als Chauffeur eines Juden aus Neusatz, der Reisender war, ist er manchmal nach Tscheb in unser Geschäft zum Waren verkaufen gekommen. Jetzt sagte er zu uns: „Mädchen ich sag’ euch, ich will durchgehen, ihr dürft aber nichts verraten. Ich gehe auch zu eurer Mutter nach Tscheb. Betet für mich“. Wir haben in Russland nichts mehr von ihm gehört. Aber Jahre danach hörten wir von unserer Mutter, dass in Tscheb eines Tages ein Mann in die Bäckerei Dölinger, in der sie arbeitete, kam. Er erzählte von uns und seiner geglückten Flucht. Unsere Mutter war damals überglücklich, auf diesem Wege ein Lebenszeichen von uns zu bekommen. Wir waren es jetzt auch, weil wir erfuhren,dass der Geflohene, der ziemlich gut Russisch sprechen konnte, das eigentlich Unmögliche tatsächlich geschafft hatte.
Besserung der Lebensbedingungen
Die ersten drei Jahre mussten wir in Russland unermesslich leiden, alles Menschliche entbehren, das Heimweh, die Sorge um die daheim Zurückgebliebenen, die Ungewissheit und die Demütigungen ertragen. Nach dieser Zeit schwerster körperlicher Arbeit, grausamem Hunger, bitterer Kälte im Winter und unvorstellbaren Lebensbedingungen trat für uns im Jahre 1948/49 eine merkliche Besserung im Lager ein, da im Jahre 1948 in Russland eine Währungsreform durchgeführt wurde. Das Leben wurde etwas menschlicher, die Verpflegung einigermaßen ausreichend und die Arbeitsbedingungen erträglicher. Während der ganzen zurückliegenden Zeit hatten wir kein Geld. Jetzt bekamen wir von der Grube einmalig 400 Rubel für die Arbeit auf die Hand. Als erstes haben wir Geld für Esskarten (Dalon) verbraucht, von denen wir uns Ziegenmilch kauften. Mittlerweile gab es ein Geschäft, im Lager sagten wir dazu Magazin, in dem man Ware aus Finnland kaufen konnte. Die mit uns arbeitenden älteren russischen Arbeiterinnen, die am Abend nach der Arbeit heimgingen, waren froh, dass sie jetzt hier einkaufen konnten. Viele der Frauen hatten seit 1945 mit uns gearbeitet und oft geweint, weil sie nichts bekommen hatten. In der Zwischenzeit konnten wir uns mit ihnen einigermaßen verständigen, kamen gut miteinander aus. Das Verhältnis war jetzt fast freundschaftlich. Sie hatten gesehen, wie grob wir manchmal von Vorgesetzten behandelt worden waren und bedauerten uns deshalb. Zu sagen ist an dieser Stelle, dass die deutschen Frauen weder im Lager noch draußen sittlich belästigt wurden. Im Sommer 1948 kauften meine Schwester und ich uns billigen Stoff im Magazin und jede nähte sich von Hand ein Sommerkleid. Bis dahin gingen wir in Lumpen. Von harten neuen, weißen Segeltuchhandschuhen für die Bergwerksarbeit hat uns der Schuster Lunowa aus Gajdobra im Lager dazu einfache leichte Sommerschuhe gemacht. Es waren die ersten Schuhe, seit wir dreieinhalb Jahre zuvor aus Tscheb deportiert wurden. Bis dahin mussten wir immer in Gummigaloschen, die uns viel zu groß waren, gehen. Ein Russe besaß einen kleinen Fotoapparat und fotografierte uns in unseren neuen Sachen. Die „Beaufsichtigung“ war jetzt auch gelockert worden. Ab und zu durften abwechselnd stundenweise jeweils zwei Frauen aus dem Lager mit Bewachung in das 3 – 4 km entfernte Karbonit zum „Basar“ gehen. Dort waren im Freien auf ein paar Stühlen Bretter gelegt, auf denen einige Lebensmittel wie z.B. Eier und Mehl und auch etwas Gemüse zum Kauf angeboten wurden. Von den Rubel, die wir bekommen hatten, konnten wir uns nun ab und zu mal einen gekochten Maiskolben kaufen. Den haben wir immer gleich aufgegessen. In all der schweren schrecklichen Zeit hielten uns unsere Gebete aufrecht, waren unsere Hoffnung, unsere Rettung. Wir haben immer geglaubt, dass der Herrgott helfen wird. Von unserer Mutter hatten wir ein Antonius-Büchlein mitgenommen. Im Monat Mai hielten wir damit heimlich kurze Maiandachten. Den Beginn des Monats Mai erkannten wir daran, dass im Hof der große Rote Stern zu sehen und dieser Tag, wie bereits erwähnt, für die Russen ein großer Feiertag war. 10. Chodko domoj – Ihr dürft heimgehen.
Im Juni 1948 war die Währungsreform in Deutschland. Konrad Adenauer wurde am 1948 – Maria und Katharina Piffath 15.9.1949 zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt. Eines Tages im Herbst 1949 kam die Frau unseres Leutnants ins Lager. Als Krankenschwester bei der russischen Truppe war sie im 2. Weltkrieg bis nach Berlin gekommen. Sie sagte uns, dass die Verhandlungen bald soweit wären, dass wir heim dürften. Wir glaubten gar nichts mehr, denn so hieß es bereits schon im Frühjahr 1949. Doch im November 1949 war es wirklich soweit! Endlich, nach fast fünf endlosen Jahren Gefangenschaft und Zwangsarbeit, kam am 2. November 1949 die erlösende Nachricht: „Koro domoj“. Für viele im Lager kam diese Erlösung zu spät, sie hatten diese Schreckenszeit nicht überlebt. Die Überlebenden waren alle von fünf Jahren Russlandeinsatz gezeichnet. Beim Verlassen des sowjetischen „Arbeiterparadieses“ wog Katharina nur noch 40 Kilo, Maria war noch abgemagerter. Unser Rücktransport begann am 3. November 1949. Von Karbonit aus, dem letzten Lager, in dem wir interniert waren, wurden wir in das Lager Toschkowka, das Anfang 1945 unsere erste Station war, gebracht. Dieses Mal mussten wir die Strecke nicht zu Fuß gehen, sondern wurden auf einem LKW dort hingefahren.
Wir haben beobachtet, wie mitgefangene Männer aus Polen, die auch mitfahren sollten, dann doch zurückbleiben mussten und hatten Angst, dass es uns genauso ergeht. Der Rücktransport ab Toschkowka erfolgte am 14. November 1949. Es war ein langer, mit roten Fähnchen und den Bildern von Grotewohl und Stalin geschmückter Zug mit doppelstöckigen Betten. Die russischen Menschen und die anderen zurückgebliebenen Gefangenen waren traurig und winkten, als wir abfuhren. Die russischen Frauen und Männer, die täglich mit uns arbeiteten, sagten zu den Deutschen: „Als Feinde gekommen, als Freunde gegangen“. Unterwegs durften noch Kriegsgefangene und Internierte aus anderen Lagern, die im Straßenbau eingesetzt waren, in Aninga zusteigen. Insgesamt sollen weit über 1.000 deutsche kriegsgefangene Soldaten dabei gewesen sein. Jetzt waren die Waggontüren von außen nicht verriegelt. Die Verköstigung während der ganzen „Heimreise“ war genügend. An verschiedenen Bahnstationen bekamen wir zu essen. Wir empfanden Hirsebrei und Brot in ausreichender Menge als gute Verpflegung und sagten: „Wenn wir so gut versorgt worden wären die vergangenen Jahre, hätten wir die schwere Arbeit besser verkraften können“. An der Grenze von Russland zu Polen, in Brest-Litowsk, mussten wir alle aus- und umsteigen. Die letzten Rubel ließen wir für einen Mantelstoff in Russland. Unsere wenige Habe im Holzkoffer, den uns im Lager Schreiner aus Sperrholzplatten gemacht hatten, und unser „Bingl“ (Bündl) wurden kontrolliert und die Namen registriert. Wir Schwestern kamen als letzte an die Reihe. Katharina erhielt das Passfoto, das seinerzeit von ihr gemacht wurde. „Das sind Zwillinge“ rief die eine Kontrolleurin der anderen zu. Da wir die letzten waren, haben sie uns schnell durchgelassen.
Ankunft in Ostdeutschland: Mit dem polnischen Zug, der nun keine Viehwaggon mehr hatte, sondern ein Personenzug war, wurden wir über Warschau/ Polen in die damalige sowjetische Besatzungszone Deutschlands geleitet. Am 16. November 1949 sind wir in Eisenach/Ostdeutschland angekommen. Die Kleinschneiders aus Tscheb, die nach der Flucht in Eisenach wohnten, haben wir am Bahnhof in Eisenach getroffen. Sie haben auf Maria Schwindl, ihre Verwandte, die mit unserem Transport aus Russland mitkam, gewartet. Uns wurde angeboten, die Stadt Eisenach anzuschauen oder die dortige Wartburg zu besichtigen. Wir entschieden uns für letzteres, da wir von der heiligen Elisabeth, die hier gelebt und Wunder gewirkt hatte, wussten. Noch heute erinnern wir uns an Einzelheiten bei der Besichtigung der Wartburg. Nach der Führung gingen wir zu Fuß hinunter nach Eisenach und wurden in ein Hotel geführt. Als die dort sitzenden feinen Damen uns abgemagerte, zerlumpte Gestalten sahen, Haare kurz geschoren, blaurote Tücher aus Ziegenhaar auf dem Kopf und viel zu kurze Röcke für die damalige Zeit, da in Russland am Stoff gespart wurde, sind sie sofort aufgestanden und eilig weggegangen, vor uns ausgerissen. Nach zwei Tagen sind wir mit dem Transportzug wieder weiter gefahren und kamen am 19. November in Frankfurt/Oder an. Unweit davon befand sich das Heimkehrerlager Gronenfelde für die deutschen Kriegsheimkehrer aus Russland. Man staunte dort, als jetzt erstmals auch deutsche Frauen aus Russland mitkamen. In Gronenfelde blieben wir über Nacht. Alle Zuginsassen wurden entlaust und jeder bekam 90 Ostmark. Wir beide kauften uns davon gleich Brot und was sonst noch zum essen möglich war. Eine Krankenschwester riet uns, aus der damaligen russischen Zone raus zu gehen, in die französische oder amerikanische Zone. Alle bekamen ein Telegramm mit einem vorgedruckten Text in die Hand gedrückt. Wer eine Adresse in Deutschland hatte, durfte es kostenlos verschicken.
Auf uns wartete niemand in Deutschland, und in die Heimat konnten wir nicht mehr zurück. Unser Vater war im September 1944 in Pecs/Ungarn erschossen worden. Unsere Mutter kam im Juni 1945 in ein serbisches Arbeitslager. Sie konnte von unserem Dölinger Cousin von dort „freigekauft“ werden, da er Hilfe in der Bäckerei in Tscheb, was mittlerweile Celarevo war, brauchte. Wir hatten eine Adresse von der Bittermann Kathl, Bad Buchau, damals französische Zone, bei uns. Von unserem Cousin Hans Dölinger hatte sie unsere Adresse in Russland bekommen und schrieb uns einmal dorthin, als es schon erlaubt war. An sie hatten wir ein Telegramm geschickt. Am 21.11.1949 kamen wir im Durchgangslager Tuttlingen/Neckar an. Kathl hatte unser Telegramm in Bad Buchau inzwischen zwar erhalten, doch es war ihr keine telefonische Rückmeldung im Lager in Tuttlingen möglich, da die Post in Bad Buchau an diesem Tag schon geschlossen war. Zu dieser Zeit hatten wenig Leute ein Telefon. Der Lagerleiter fand aber doch eine Möglichkeit, Kathl am gleichen Tage noch telefonisch zu erreichen. Wir waren sehr erleichtert, denn bis zu diesem Moment standen wir verloren und ängstlich rum, besonders weil wir das Wort Lager wieder gehört hatten. Kathl sagte zu uns dann am Telefon: „Kummt narr, dess werre mr schunn mache!“ Jetzt glaubte uns der Lagerleiter. Er wollte sicher gehen, dass wir eine Anlaufstelle haben.
Als Letzte konnten wir schließlich weggehen und mussten nicht im Durchgangslager bleiben. 12. Ankunft, Hilfe und Integration in Bad Buchau Mit einer Flügelbahn, einem kleinen „Ziegle“, die eine schmale Spur wie die Bahn im Kohlenbergwerk hatte, sind wir nach Bad Buchau gefahren. Wir waren noch nicht in Bad Buchau angekommen als es im Ort hieß: „Es komme zwei deutsche Mädle, die ware fünf Jahr in Russland“. Die Meldung kam im Radio und in der damaligen Tageszeitung von Bad Buchau. Auch der katholische Stadtpfarrer hatte dies bei der Predigt in der Kirche in Bad Buchau verkündet. Er bat, die Mädle zu unterstützen und für sie zu beten. Ein Mann sprach uns auf dem Bahnsteig in Riedlingen, wo wir in das „Ziegle“ umsteigen mussten, an. Er wusste gleich, dass wir die beiden Mädle waren. Mit unseren Holzköfferchen und unserer Kleidung waren wir nicht zu übersehen. Er sagte: „Seid ihr die zwei, die wo von Russland komme senn unn die niemand henn? Kommet narr unn setzed eich nei. No isch guud. Ich bin der Nachbar wo ihr hinwelled!“ Wir waren bettelarm. Aber die Leute in Bad Buchau waren gleich so gut zu uns,halfen uns mit Naturalien und anderem Notwendigen. Jeden Tag brachte man uns etwas. Maria erinnert sich: Einmal war eine 1-DM-Münze im Briefkasten, das andere Mal bekamen wir ein Messer vom Sägewerk Buchau. Von einer Strickerei bekam jede von uns ein Kleid, eine Bäuerin brachte einen Zentner Kartoffeln, von anderer Stelle erhielten wir einen Zentner Kohle und vieles andere mehr. Auch das Bürgermeisteramt half. Bald fanden wir eine Wohnung und Arbeit: Katharina in einer Molkerei, Maria in einer Näherei. Später bekamen wir beide einen guten Arbeitsplatz in der Näherei einer großen Herrenunterwäsche Fabrik in Bad Buchau. Über 30 Jahre lang, bis zur Rente, haben wir dort gerne gearbeitet. Es sollte noch zwei Jahre dauern bis zum lang ersehnten Wiedersehen mit unserer lieben Mutter Katharina Piffath geb. Lunowa.
Bevor sie nach Deutschland ausreisen durfte, musste sie sich erst bei den jugoslawischen Behörden „freikaufen“, d.h. sie musste zwei Jahre noch dort arbeiten, um das Bürgerrecht abzahlen zu können. Der damalige Bürgermeister von Bad Buchau bemühte sich um die Ausreise über die englische Botschaft, da Deutschland seinerzeit in Jugoslawien noch kein Konsulat hatte. Mit Erfolg: Am 11.11.1951 konnten wir drei uns glücklich in Bad Buchau in die Arme schließen. Bis zum heutigen Tage haben wir mit der Enkelin unserer ehemaligen Hausleute eine innige Verbindung. Einige Tage nachdem wir das Zimmer bei ihnen bekommen hatten, wurde das Kind geboren. Unsere Mami betreute das kleine Mädchen wegen Krankheit seiner Mutter. So nannte es unsere Mami auch Mami, bis zu ihrem Tode. Durch dieses Kind haben wir damals alle zusammen etwas leichter ins Leben zurückgefunden.
Unsere hilfsbereiten Hausleute, bei denen wir so guten Familienanschluss gefunden hatten, zogen von Bad Buchau nach Tübingen. Sie wollten uns mitnehmen, uns dort eine neue Wohnung besorgen. Doch wir wollten in Bad Buchau bleiben. Wir suchten und fanden einen Bauplatz. 1954 entstand unser Eigenheim. Das war kein leichtes Unternehmen, aber wir haben fleißig gearbeitet und gespart, waren äußerst bescheiden. Die erste Zeit war hart, aber alles ist nach und nach gegangen. Wir drei Frauen schafften es mit vereinten Kräften. Zusammen mit unserer lieben Mutter durften wir froh und glücklich bis zu ihrem Tode im Jahre 1995 in unserem eigenen Haus leben. Sie starb, fast 95-jährig, am Ostermontag 1995.
Einmal noch wollten wir unser geliebtes Tscheb sehen. Dies wurde im Jahre 1958 möglich. Doch wie traurig und deprimierend war dieses Zurückkommen in unseren Heimatort nach 14 Jahren! Alles war heruntergekommen und alt, keine Weingärten mehr, keine Hopfengärten. „Unser Tscheb“ existierte nicht mehr.
Slowaken, die damals, im Oktober 1944 beim Einmarsch der Russen und Partisanen mit den Serben jubelnd durch die Straßen zogen, sagten nun zu uns: „Guude scheene Leit kummt doch wieder …“. Bald waren wir in die Katholische Kirchengemeinde Bad Buchau integriert. Mit dem Kirchenchor und auch privat unternahmen wir in späteren Jahren schöne Reisen. Sie führten uns nach Rom, Fatima, Lourdes, Budapest, Venedig, an die Riviera, nach Österreich. Als wir einmal mit dem Bus zu einem Badeurlaub nach Jesolo an die Adria fuhren, kamen wir an der Basilika in Padua vorbei. Schon in Tscheb wussten wir von der Reliquie des heiligen Antonius von Padua (*1195- +1231) und jetzt konnte hier kein Halt gemacht werden! Darüber waren wir sehr traurig. Aber irgendwann später konnten wir eine Wallfahrt zum heiligen Antoni machen. Jetzt kamen wir in die Basilika und konnten dem heiligen Antoni, der auch in Tscheb sehr verehrt wurde, unser Gebetbüchlein zeigen, das uns in den Russlandjahren so ein großer geistlicher Beistand war. Diese Wallfahrt nach Padua war unser bewegendstes Reiseerlebnis. Bei unserer Reise nach Israel ins heilige Land sind wir zum ersten Mal in einen Flieger gestiegen. Einmal sind wir auch noch nach Eisenach auf die Wartburg zurückgekehrt. Es war uns beschert, noch so manches von den Schönheiten und Sehenswürdigkeiten dieser Welt zu sehen – der Herrgott hat uns entschädigt. Doch auch nach über 60 Jahren verfolgen uns noch so manches Mal die schlimmen Erinnerungen an die Deportation nach Russland und an die schweren Arbeitsjahre in der Kohlengrube. Die Schilderungen über diese Zeit sind uns deshalb nicht leicht gefallen.
Wir sind dem Schicksal für die danach erlebten, vielen guten Jahre in Bad Buchau sehr dankbar. Dass es uns noch einmal in unserem Leben so gut gehen würde, das hätten wir uns bei unserer Ankunft in Bad Buchau 1949 nicht vorstellen oder gar glauben können. Den Schritt nach Bad Buchau haben wir nie bereut. Dieser schöne Kurort, der uns mit den Jahren auch viel gesundheitlichen Nutzen durch das Bad brachte, ist längst unsere zweite Heimat geworden. Maria sagte zum Abschluss ihrer Schilderungen: „Ich bin bereit für die große Reise. Jetzt könnt’ der Herrgott uns hole – hoffentlich macht er’s gnädig“. Katharina sagte abschließend: „Ich übergeb’ alles unserem Herrgott – so lang’ er uns die Gnad’ lässt …“.
Dieser Erlebnisbericht wurde von Elfriede Korol (*1941 in Tscheb) verfasst. Die Aufzeichnungen entstanden zwischen 2007 und 2010 bei vielen Telefonaten und während eines Besuches im Mai 2010 bei den Schwestern Katharina und Maria Piffath in Bad Buchau. Beide Frauen konnten die Erlebnisse in bemerkenswert geistiger Frische wiedergeben. Dieser Bericht wurde im 39. Tscheber Heimatbrief / Dezember 2010 veröffentlicht