Viele Leute haben in der etwa 250jährigen Geschichte unseres Dorfes Tscheb verlassen: Gesellen, Dienstmädchen, Arbeiter, Handwerker, Rekruten, Studenten. Sie zogen in benachbarte Dörfer und Städte, ja bis nach Belgrad, Zagreb, Budapest, Wien, nach Deutschland und sogar nach Amerika. Die meisten wollten aber wieder heimkehren und sind auch wieder heimgekommen. Nur wenige blieben aus persönlichen Gründen oder aus wirtschaftlichem Zwang in der Fremde. Nur der Moloch Krieg, dieser unmenschliche Wahnsinn, ließ viele von seinen Schlachtfeldern nicht mehr heimkehren.

Wieder war Krieg: Im Oktober 1944 schon 5 Jahre lang! Innerhalb weniger Tage verließen etwa 300 Tscheber ihr Dorf. Auch sie wollten wieder heimkehren. Die Geschichte hat anders entschieden: Kein Zurück! Nach dem Zusammenbruch der Front in Rumänien im Sommer waren mehrere Wochen Leute mit ihren Pferdewagen durch unser Dorf gen Westen gezogen: aus dem Banat, aus Srem, aus der Südbatschka, die letzten wohl aus Futok.
Auch in Tscheb begann man sich auf das Wegziehen vorzubereiten. Auf Pferdewagen wurde ein Dach aufgebaut: mit dünnen Stangen ein halbrund gebogenes oder mit Latten zusammengenagelt ein schräges. Darauf wurde eine Plane (Fluchttuch 3-4 m breit, 5-6 m lang) gezogen und befestigt, die aber nicht regendicht war. Kleider, Bettzeug, Wertsachen, Lebensmittel, Pferdefutter wurden bereitgestellt. Nur etwa ein Fünftel der noch im Dorf verbliebenen Schwaben bereiteten sich auf die Flucht vor. Viele Männer hatte der Krieg schon geholt: zur Waffen-SS, zur Wehrmacht oder zur Honvéd. Kaum 2 Monate vorher wurden in einer Menschen verachtenden Aktion viele Männer im Alter von 18 bis 50 Jahren noch zum Militär eingezogen.
Einen Evakuierungsplan hat es nicht gegeben. Nichts war für die Flucht organisiert, nicht vom Habaghaus, nicht von der Wehrmacht und auch nicht von der Honvéd kam eine Anordnung.
Prof. Dr. Dr. Matthias Hubert
Das Dorf zu verlassen oder da zu bleiben, musste von den Familien selbst entschieden werden. Diese jahrelange weltanschauliche Spaltung der Tscheber hat auch bei dieser Entscheidung mitgewirkt. Die Flucht war nicht der Weg einer geschlossenen Gruppe. Alle Einzelschicksale zu beschreiben würde ein Buch füllen, deshalb können nur einige hier dargestellt werden.
Als erste verließen der Haditsch Karl und die Lissbesl das Dorf. Nachdem die ungarische Bewachung von ihrem Betrieb abgezogen wurde, verließen sie wohl am 8. Oktober 1944 mit ein paar Koffern und Geschäftsunterlagen das Dorf. Sie wurden nach Budapest gefahren. Einige Tage später fuhren sie nach Wien, von dort in die Lausitz nach Sorau, wo ein Sohn Textiltechnik studiert hatte. Kurz vor Kriegsende kamen sie nach Konzell im Bayrischen Wald.
Am 10.Oktober 1944 standen viele Leute in der Mittelgasse neben den Pferdewagen, manche auch bei ihren mit Gepäck beladenen Schubkarren. Alle warteten auf eine Anweisung. Ein deutsches Militärfahrzeug fuhr von Glozan her durchs Dorf. “Leute, was steht ihr hier auf der Straße? Geht doch nach Hause!”, rief einer der Soldaten. Wagen und Schubkarren wurden wieder nach Hause gefahren. Am späten Nachmittag des nächsten Tages fuhr der Ernst Josef – damals noch nicht ganz 15 Jahre alt – mit dem Motorrad nach Sombor, wo die Einheit seines Vaters stationiert war. Er wollte beim Vater Entscheidungshilfe holen. Am Tag darauf erhielt der Franzvetter Urlaub. Vater und Sohn fuhren mit dem Motorrad zurück in Richtung Tscheb. In Obrovac aber trafen sie unsere Flüchtlingskolonne mit dem Rest der Familie.
Am Donnerstag, dem 12. Oktober 1944, hatte sich vormittags wieder eine Wagenkolonne in der Mittelgasse gesammelt: einzelne Wagen von einem Pferd gezogen, aber auch zwei aneinander gehängte Wagen mit zwei Zugpferden. Verwandte standen dabei, um in Tränen Abschied zu nehmen. Diesmal hatten sich weniger entschlossen fortzuziehen. Gegen 11 Uhr wurden die Pferde angetrieben: 59 Pferdewagen rollten in Richtung Palanka. Etwa 250 Kinder, Frauen und ältere Männer saßen auf den Wagen oder gingen zu Fuß oder mit dem Bizikl (Fahrrad) nebenher. Die Flucht hatte begonnen: weg vom vertrauten Dorf. “Nur über die Donau in die Baranya” hieß es, “dann kommt der große Gegenangriff, die Russen werden zurückgeschlagen, der Endsieg folgt und wir kehren wieder heim nach Tscheb”.
Die Seider Anna, die in Neusatz im Säuglingsheim des Krankenhauses gearbeitet hatte, wurde im September an den Bahnhof zur Flüchtlingsbetreuung versetzt. Als von ihr keine Nachricht mehr kam, fuhren der Tonivetter und die Lissi mit den Rädern nach Neusatz. Am Bahnhof erfuhren sie, dass die Anna mit einem Flüchtlingszug abgefahren sei. Man sagte ihnen, sie sollten mit der Familie auch nach Neusatz kommen, um ebenfalls noch wegfahren zu können. Mit dem Pferdewagen fuhr der Bles Heinrichvetter die Daribesl, Karl und Hansi und etwas Gepäck zum Bahnhof, Schrenk Lissi, Ams Resi und Kinder fuhren mit, Tonivetter und Liss fuhren mit den Rädern hinterher. Der Zug brachte sie über die Donaubrücke über Peterwardein nach Esseg. Dort stiegen sie alle in einen Flüchtlingszug, der sie nach Fünfkirchen fuhr. Die jungen Leute stiegen aus, um einzukaufen. Ein plötzlicher Fliegeralarm riss die Familie auseinander. Der Zug fuhr los. Daribesl und Tonivetter kamen über Braunau nach Pischelsdorf im Innviertel. Die übrigen fuhren mit einem anderen Zug nach Wien. Karl und Hans wurden in einem Jugendwohnheim untergebracht, von dort nach Prag verlegt. Nach dem Zusammenbruch mussten sie dort Schlimmes über sich ergehen lassen. Nach einem Jahr in Thüringen kamen sie im Herbst 1947 zu den Eltern. Die Lissi hatte in Wien Annas Aufenthalt erfahren, fuhr zunächst dorthin. Erst kurz vor Weihnachten kamen sie zu den Eltern. Der Karcher Niklos, dessen Kompanie in Bátaszék in der Baranya stationiert war, fuhr mit einigen Kameraden mit dem LKW nach Tscheb, um ihre Frauen und Kinder zu holen. Seine Familie war aber mit der Wagenkolonne bereits unterwegs. Sie nahmen Eckmayer Josefs Frau und Töchter, Hubert Becks Frau und die beiden Töchter, Schwindl Valentins Frau und die drei Kinder, Balger Michaels Frau und Tochter und auf dem Rückweg einige Palankaer Leute, alle mit kargem Gepäck, auf den Lastwagen und fuhren zurück nach Bátaszék. Von dort fuhren die Leute mit dem Zug ins Reich.
Zurück zur Wagenkolonne. Am ersten Tag war sie bis Obrovac gekommen – 25 km. Dort wurde zum ersten Mal übernachtet. Einige schliefen im Wagen, die meisten wurden von Obrovacern in ihren Häusern aufgenommen. So ging es nun weiter, 45 km am nächsten Tag bis Bezdan. Unterwegs fuhren wir durch teilweise verlassene Dörfer. Kühe liefen auf den Gassen, nach Futter brüllend. Im Csatalja wird die Kolonne zum ersten Mal auseinander gerissen. In Baja Übernachtung auf der Straße. Am Sonntag, dem 15. Oktober 1944, kam die Nachricht, die Horthy-Regierung habe kapituliert. Wir gelangen mit der vollbeladenen Fähre über die Donau in die Schwäbische Türkei. In Bátaszék können die Leute von den überladenen Wagen in den Zug umsteigen. Die Kolonne wird wieder kleiner. Hier gab es Essen vom deutschen Militär. Übernachtung auf der Straße vor einem steilen Hügel bei Möcsény. Endlich Rast im deutschen Dorf Grábocz.
Von den Leuten wurden wir freundlich aufgenommen. Die Wagen wurden in den Hof gestellt, die Pferde teilweise im Stall untergebracht. Hier warteten wir auf die baldige Rückkehr. Aber nach sechs Tagen, am 23. Oktober 1944, mussten wir weiterziehen. 20 bis 40 km schafften wir am Tag: auf glatten Straßen mehr, weniger im Bergland, weniger auch bei Staus wegen Militärkonvois. Mal machten wir Rast in einem großen Pferdestall, so 2 Tage bei Taszar, mal übernachteten wir in einer Schule, so in Böhenye. Essen gab es jetzt fast täglich vom Militär. Auf der Orman Puszta wieder 5 Tage Aufenthalt. Weiterfahrt bis Marcali, übernachten, Verpflegung fassen für 5 Tage, Weiterfahrt bis Sávoly, dort wieder 7 Tage Rast. Zur Weiterfahrt aufgescheucht von einem durch die Dörfer reitenden Schulfreund aus dem Werbaser Gymnasium. In Eile weiter am Westrand des Plattensees. Mittagessen auf der Straße vor dem Schloss in Keszthely, Ankunft spät abends nach langer Fahrt im Regen auf einer Puszta in Karmács, Übernachtung in den Viehställen. Weiter ging es über Zalabér, Sárvár bis Sopron.
Am 19. November 1944 um 16.30 Uhr überquerten wir die Reichsgrenze (die Grenze zwischen Österreich und Ungarn). Noch eine Übernachtung in Großhöflein, noch zwei Tage Rast in Ebenfurt. Marschbefehl bis Rehhof. Auf dem Bahnhof stiegen Leuten in den Zug nach Schlesien. Dort übergaben wir von den noch 13 zusammengebliebenen Fuhrwerken der ehemals langen Kolonne die Pferde, das Geschirr und die Wagen ans Militär. Das Gepäck wurde in Waggons verfrachtet: zu dritt fuhren wir mit.- Zeit zum Nachdenken.- Bilder zogen vorbei: bunte Alleen in der tief stehenden Herbstsonne, Krähenscharen auf den Feldern, verlassene Dörfer, Wagen anschieben am Morgen, Wagen bremsen an steilen Straßen. Was am Anfang für uns junge Leute wohl als Abenteuer empfunden wurde, geriet zur Ungewissheit, ja Angst.
In Niederschlesien im Gasthof des Dorfes Mehling am Hügel der Straße nach Glaz wurden wir 51 Tscheber untergebracht. Im großen Saal standen an den Längsseiten 27 Etagenbetten. Darunter und dazwischen wurde das Gepäck verstaut. Die Alten schliefen auf dem unteren, die Jungen auf dem oberen Bett. In der Raumachse war eine lange Tischreihe mit genügend Stühlen aufgestellt. Alles war von den Wirtsleuten auf Anordnung gut hergerichtet. Die Wirtsleute hatten gehört, Leute aus Ungarn würden kommen. Sie hatten befürchtet, dass sie sich mit uns nicht würden verständigen können. Sehr schnell herrschte ein freundliches, ja herzliches Verhältnis. Die ersten Tage bekochten und bewirteten sie uns. Schnell organisierten wir für jeden Wochentag eine Frauengruppe, die diese Arbeit übernahm.
Die Tscheber fanden sich wieder in Schlesien über Treckleitstellen, über Landsleute, die schon vorher nach Deutschland arbeiten gegangen waren, über die Angehörigen beim Militär uind viele über Seiders, unsere Zentrale in Österreich.
Der Karcher Josef holte seine Eltern an die Mosel. Die Tscheber begannen sich in Schlesien gegenseitig zu besuchen, bald sogar ihre Männer und Väter beim Militär, von denen mehrere in der Slovakei angekommen waren. In Schlesien herrschte Frieden, es gab keine Bombenangriffe, die Front war weit im Osten: deshalb hat man uns Flüchtlinge aus dem Südosten dorthin geschickt.
Weihnachten 1944 wurde im großen Saal gemeinsam mit den Wirtsleuten gefeiert. Es war ein stilles nachdenkliches Fest, viele Tränen sind geflossen im Rückblick auf die vergangenen Monate. Im Januar 1945 wurden unsere Leute, ein oder zwei Familien, in die Häuser des Nachbardorfes einquartiert.
Der Ernst Sepp und Franz und ich waren nach Reichenberg im Sudetengau gefahren. Dort sollte für die Volksdeutschen aus dem Südosten wieder eine höhere Schule eingerichtet werden. Daraus wurde nichts. Ich kam bald ins Wehrertüchtigungslager.
Die Front brach in Polen zusammen, die Russen drangen vor gegen Breslau und Frankfurt/Oder. Ich verlor die Verbindung zu meinen Tschebern. Über Prag, wo Seiders Buben Karl und Hans waren, fuhr ich weiter zu deren Eltern in die Ostmark. Dort war gerade Post angekommen. Meine Mutter und Schwester und die übrigen Tscheber waren mit der Bahn aus Niederschlesien nach Bayern in die Hopfengegend Holledau transportiert worden. Auch die anderen Tscheber in Schlesien kamen so noch vor dem Zusammenbruch nach Bayern, die meisten in den Bayrischen Wald.
Zur großen Überraschung und Freude meiner Mutter kam ich Mitte April im Gasthaus ihrer Unterkunft an. Die Marjanbesl musste sehr weinen: sie wusste nicht, wo ihr Josef und Franz geblieben waren. Am 22. April zogen amerikanische Truppen nach kurzer Schießerei durchs Dorf. Bald danach wurden die Ostarbeiter, auch aus Jugoslawien, nach Hause transportiert. Sie mussten sich dazu in den Sammelstellen melden. Ich ging zur entsprechenden Sammelstelle nach Pfaffenhofen, um Auskunft zu holen.
Ich wurde angelächelt: “Nein, die Schwaben dürfen nicht mehr zurück nach Jugoslawien”.
Prof. Dr. Dr. Matthias Hubert
Großes Wehklagen brach aus im Betten-Saal. Wir mussten uns aber damit abfinden. Jetzt galt es die Angehörigen, die auf der Flucht verloren gingen und die anderen geflüchteten Tscheber wieder zu finden. Erst allmählich erfuhren wir, was unsere im Dorf verbliebenen Tscheber hatten erdulden müssen.
Dieser Bericht wurde von Prof. Dr. Dr. Matthias Hubert (*1928 – +1993) verfasst und im 19. Tscheber Heimatbrief / Dezember 1990 veröffentlicht.