Der 12. Oktober 1944 war ein sonniger Herbsttag und gleichzeitig der Tag, an dem sich viele Leute aus dem Ort schweren Herzens entschlossen, ihr geliebtes Tscheb zu verlassen. Überall herrschte wegen des Vormarsches der russischen Armee Ratlosigkeit. Wir Mädchen (Anna 13 Jahre, Veronika 10 Jahre) waren zwar auch von der großen Unruhe erfasst, konnten jedoch die Sorgen und die Trauer unserer Mutter Anna Stefan und unserer Großeltern Theresia und Johann Zindl nicht nachvollziehen. Die ganze Situation überstieg unser kindliches Vorstellungsvermögen,so dass wir das Ausmaß der von den Erwachsenen zu treffenden Entscheidungen gar nicht erfassen konnten.
Dass dies ein Abschied von den Großeltern Veronika und Valentin Stefan sowie manchen lieben Verwandten und Bekannten für immer sein würde, ahnten wir nicht.
Die Familien Klein (Klein Toni Vetter und Morsch Toni Vetter mit Familien) fuhren mit unserem Gespann bis Baja (Ungarn) mit; danach setzten sie die Reise mit der Bahn fort. Der zusammengesetzte Treck bestand aus Frauen, älteren Männern und Kindern. So gingen wir schweren Herzens in eine ungewisse Zukunft.
Es gab viele Strapazen zu bewältigen. Eine große Herausforderung war die Überquerung der Berge. Unsere Pferde kannten nur das Flachland unserer Heimat und die Wagen hatten gar keine Bremsvorrichtungen. Mutig half man sich gegenseitig, mit den Problemen fertig zu werden. Bei solchen Gelegenheiten kam es schon mal zu einem Stimmungsausbruch, Verzweiflung herrschte jedoch nie. Verpflegt haben wir uns vorwiegend mit den von Zuhause mitgenommenen Vorräten. So oft es die Lage erlaubte, bereiteten die Frauen auf einem Dreifuß eine einfache Mahlzeit. Hin und wieder trafen wir auf die Deutsche Wehrmacht. Diese versorgte uns dann gelegentlich mit Eintopf und heißem Tee. Nachts waren wir manchmal in Häusern, Scheunen oder Ställen untergebracht. Einige Male übernachteten wir auch im Freien. Wohin uns unser Weg noch führen würde, wussten wir zu der Zeit nicht.
Um wieder zu Kräften zu kommen, verweilten wir vom 1. bis 6. November 1944 in der Ortschaft Somogy-Simony (Ungarn). Dort sind wir von ungarischen Leuten freundlich aufgenommen worden. Mittlerweile wurde unser Reiseziel bekannt gegeben: Sopron (Ungarn). Dort angekommen vergingen ebenfalls mehrere Tage,bis der Transport – auch der Pferde und Wagen – mit der Bahn geregelt war. Unser Bestimmungsort war das Städtchen Schlegel in Niederschlesien. Einige Frauen aus Schlegel begrüßten uns mit einem Eintopf. Anschließend wurden wir alle zusammen in einem großen Saal untergebracht. Hier lebten wir mehrere Wochen auf engstem Raum zusammen. Ein Privatleben war überhaupt nicht mehrmöglich. Die Stimmung war gedrückt, besonders an Heilig Abend. Die Frauen bemühten sich, weihnachtliche Stimmung aufkommen zu lassen, was angesichts der Gesamtsituation jedoch nur begrenzt gelang. Jeder wischte mal heimlich eine Träne weg. Man tröstete sich gegenseitig mit der Aussicht, zur nächsten Weihnacht wieder in Tscheb zu sein. Anfang Januar 1945 wurde das Sammellager aufgelöst. Wir fünf (Großeltern, Mutter und wir zwei Kinder) fanden als einzige aus unserem Ort im nahegelegenen Vollbertsdorf im Gasthaus „Wienerhof“ eine neue Bleibe. Unser neues Quartier stellte eine Verbesserung unserer Lage dar. Auch hier wurden wir offen empfangen. Wir bekamen ein eigenes Zimmer mit Kochgelegenheit und – was das Schönste war – jeder hatte ein eigenes Bett.
Mitte Februar 1945 war das alles schon wieder vorbei. Zuerst wurden die Pferde für den deutschen Wehrdienst eingezogen, was uns sehr traurig stimmte. Besonders unsere Mutter litt unter dem Verlust der Tiere, da ihr damit ein weiteres Stück Heimat genommen wurde. Die russische Armee rückte immer näher, so dass man im Rathaus in Vollbertsdorf beschloss, uns per Bahn in die Tschechei zu schicken. Das Städtchen Lomnitz an der Leinsitz, nahe Budweis (Tschechei), war unsere nächste Station. Hier fanden rund 250 Personen aus der Batschka in zwei durch einen Innenhof verbundenen Schulgebäuden Unterkunft. Die Klassenzimmer waren jeweils mit 15 – 20 Personen belegt,geschlafen wurde auf Stroh auf dem Fußboden. Einmal am Tag gab es eine einfache warme Mahlzeit, die in der Schule zubereitet wurde. Hierzu wurden die Frauen zum Küchendienst eingeteilt. Für uns Kinder wurde eine Art Schulunterricht abgehalten.
Trotz dieses primitiven Lebens waren die Leute ruhig. Uns sind keine Konflikte in Erinnerung. Aber alle schauten sorgenvoll in die Zukunft. Obwohl die Zeit so ungewiss war, gelang es ab und an, mit unserem Vater, der als Soldat der deutschen Armee mit seiner Einheit in Prag stationiert war, per Post Kontakt zu halten. Er beschwor uns in seinen Briefen immer eindringlicher, mit allen Mitteln zu versuchen, aus der Tschechei zu kommen. Hiervon konnte unsere Mutter mehrere Frauen aus dem Umfeld überzeugen, so dass diese mit uns einen Ausreiseversuch wagen wollten. Nach längeren Verhandlungen mit der Lagerleitung bekamen wir die Erlaubnis, nach Deutschland zurück zu gehen. Am 6. Mai 1945 war es dann so weit. Wir fingen schon an, den bereit gestellten Waggon am Bahnhof zu beladen, da ertönte aus den Lautsprechern ununterbrochen Musik. Überall wurde gelacht und gesungen. Dass dies nichts Gutes bedeuten konnte war uns sofort klar.
Der Bahnhofsvorsteher gab uns zu verstehen, die Russen seien nur ein paar Kilometer entfernt und an eine Weiterfahrt wäre nicht zu denken. Wir sollten versuchen, in kleinen Gruppen vom Bahnhof in die Schule zurück zu kommen.
Frau Kühn sowie ihre 10-jährige Tochter und ich (Anna) versuchten, vom Bahnhof ins Lager zurück zu gehen, als plötzlich Geschosse an uns vorbeiflogen. Wir hatten Todesangst und liefen schreiend in das nächste Haus. In dem Gebäude waren mehrere Tschechen, die uns verlachten und verspotteten, uns teilweise wüst beschimpften und uns unmissverständlich aufforderten, das Haus zu verlassen. In unserer Angst klammerten wir uns am Treppengeländer fest und flehten um Hilfe. Mit Gewalt rissen sie uns los und warfen uns zurück auf die Straße. Wunderbarerweise konnten wir das Lager unversehrt erreichen. Aus der Lager-Zentrale wurden weitere Verordnungen ausgegeben. Niemand dürfe sich in Fenster-Nähe aufhalten und auch kein Licht anmachen. Außerdem hatte man uns eingeschlossen. Begründet wurden diese Maßnahmen mit der Behauptung, aus dem Lager wäre geschossen worden. Die Situation war sehr ernst. Zwei bange Tage vergingen ohne besondere Vorkommnisse. In der Nacht zum 9. Mai 1945 kam von unserer Mutter die Anweisung, schnell und leise so viele Kleider wie möglich anzuziehen und an Gepäck zu tragen, so viel wir nur könnten.
So schlichen wir im Dunkeln aus der Schule. An einer Seitenstraße warteten mehrere deutsche Soldaten mit Fuhrwerken. Sie waren auf der Flucht in die amerikanische Besatzungszone. Nur weil unsere Mutter mitbekommen hat, dass einer der Soldaten eine Angehörige, die bei uns im Zimmer mit untergebracht war, mitnehmen wollte, erfuhr sie von den Fluchtplänen der Soldaten und brachte so einige dazu, sich unser anzunehmen.
Nicht ohne uns auf die möglichen Gefahren aufmerksam zu machen, wurde jeder auf einen anderen Wagen verteilt. Keiner wusste, wie die Lage derzeit war. Waren die Russen schon in der Nähe… Wer hatte überhaupt das Sagen… Wie stellte sich eigentlich unsere Lage weiterhin dar… Alles war äußerst ungewiss. In großer Anspannung ging es über holperige Feldwege, die wir im Dunkeln passierten. Gott sei Dank erreichten wir die österreichische Grenze ohne Zwischenfälle. Sobald die ersten Häuser auf österreichischem Boden in Sicht waren, wurden wir in aller Eileabgesetzt und unsere Habseligkeiten abgeladen. So standen wir fünf nun wieder vereint am Straßenrand. Der Druck der letzten Nacht löste sich erst allmählich. Wie der Ort hieß, ist uns leider entfallen. Außer uns fünf waren da noch ein älteres Ehepaar Ries mit ihrer 16jährigen Tochter, eine Frau Kühn mit ihrer gebrechlichen Schwiegermutter und einer 10jährigen Tochter, die jedoch alle nicht aus Tscheb waren. Zu elft gingen wir nun gemeinsam weiter durch alle Schwierigkeiten bis an die ungarisch-jugoslawische Grenze.
Das war das Ende des Krieges. Ab jetzt waren wir nur noch auf uns allein gestellt.
Eingedenk der Tatsache, dass es sich nur noch um Stunden handeln kann, bis die gefürchteten Russen hier sind, war es für uns höchste Zeit, eine Bleibe zu suchen. Vor den weit verstreuten Häusern war kein Mensch zu sehen. In dem nächst gelegenen Bauernhof konnte unsere Mutter die Bäuerin nach vielen Rufen dazu bewegen, vor die Tür zu treten. Nach längerem Bitten erlaubte sie uns, ihre Scheune als Unterkunft zu benutzen. Es war ein kärgliches Leben, mit dem wir nun zurechtkommen mussten.Geschlafen wurde wieder auf dem Boden; diesmal jedoch in einer zugigen Scheune. Die Nächte waren noch kalt, Wasser holten wir vom Brunnen, das Essen war sehr knapp und bestand manchmal nur aus etwas wie einer Suppe. Dazu stellten die Frauen einige Steine zusammen, das war der Herd. Öfter gab es auch Brot – erbettelt von meiner kleinen Schwester.
Am Tage unserer Ankunft in Österreich sahen wir die ersten russischen Soldaten durch die Straßen ziehen. Sie ließen uns jedoch unbehelligt. Überhaupt kümmerte sich niemand um uns. Nach etwa einer Woche im neuen Quartier stand plötzlich ein russischer Soldat vor dem Eingang der Scheune. Wir waren alle sehr erschrocken. Er beruhigte uns jedoch mit Gesten, bis wir verstanden, wir bräuchten keine Angst zu haben. Nachdem er sich erkundigte, woher wir kamen, zeigte er sich uns gegenüber wohlgesonnen. Er stellte sich als Kommandant einer in der Nähe stationierten Einheit vor. Ansonsten erklärte er, in Jugoslawien sei es nicht gut für uns und wir sollten nicht nach Hause zurück gehen. Er wiederholte noch einige Male seine Besuche. Im Nachhinein bin ich der Meinung, dass er schützend seine Hand über uns hielt.
Ende Mai, wir hausten immer noch in derselben Tenne in Österreich, kam die größte Herausforderung auf uns zu. Ein Amtsbote aus dem zuständigen Gemeindehaus teilte uns mit, dass jeder in seine angestammte Heimat zurück zu gehen hatte. Das war zwar unser größter Wunsch, doch wir wussten nicht, wie wir dies bewerkstelligen sollten. Frau Kühn sen. war gehunfähig und unsere Großeltern konnten nur kurze Strecken zu Fuß gehen. Obwohl wir aus der Tschechei bei Nacht und überhastet flüchteten, hatten wir noch viel Gepäck bei uns, wovon wir uns auch nicht trennen wollten. Nach langwierigen Verhandlungen mit einheimischen Leuten konnte unsere Mutter mit Geld und im Tausch eines gut erhaltenen Stutzers (kurzer Mantel) unseres Vaters zwei ältere Pferde, die einst deutsches Wehrmachtsgut waren, erwerben. Zu einem Pferdewagen kamen wir auch im Tausch. Die beiden anderen Familien konnten zwei Handwägelchen besorgen. Nochmals wollte uns der russische Kommandant helfen. Er wollte, dass wir in Österreich blieben und bot den Frauen Arbeit in der Kasernenküche und Herrn Ries, der Schneider war, in der Kleiderwerkstatt an. Dadurch könnte er für unseren Aufenthalt garantieren. Doch alle wollten nur nach Hause. Selbst die Erwachsenen hatten die naive Vorstellung, alles in Tscheb so anzutreffen, wie vor der Flucht. Der ganzen Situation war Großvater psychisch nicht mehr gewachsen. Das Alles ging über seine Kräfte. Unsere Mutter nahm endgültig die Führung in die Hand.
Mit tatkräftiger Unterstützung von Frau Kühn führten die beiden Frauen mit einer Tapferkeit und Aufopferung die ganze Gruppe (11 Personen) durch die vielen Nöte, die auf uns zukamen. Diese Leistung kann man nur mit Hochachtung bewundern. Nach einer Woche Vorbereitungszeit machten wir uns auf den vermeintlichen Heimweg. Da Frau Kühn sen. nicht laufen konnte, musste sie immer als Beifahrerin auf dem Wagen sitzen. Unsere Großeltern waren im Wechsel als Kutscher eingeteilt. Die übrigen mussten die ganze Strecke zu Fuß gehen, im Tagesschnitt waren dies 30-35 km.
Nach einigen Kilometern Fahrt kam schon die erste Katastrophe auf uns zu. Wie sich herausstellte, passten die Pferde nicht als Gespann zusammen. Das eine Pferd war schon etwas älter und in der Größe eines Haflingers. Es war sehr fleißig, doch war es nicht in der Lage, das Fuhrwerk allein zu ziehen. Das andere Tier, in der Größe eines Belgiers, war dagegen groß und kräftig, jedoch sehr launisch und nur schwer zu bewegen, den Wagen zu ziehen. Oft tänzelte es nur nebenher. Wir hatten keine andere Wahl und mussten den Wagen bergauf schieben. Der nächste Schrecken ließ nicht auf sich warten; nach rund fünfzehn Kilometern erlitt das Fuhrwerk Totalschaden. Zunächst wusste niemand, wie das Problem zu lösen wäre. Ein Mann, der zufällig vorbei kam, sagte uns, dass in einem nahe gelegenen Bauernhof noch zum Teil brauchbare Fuhrwagen aus Beständen der deutschen Wehrmacht stünden. Vielleicht ließe sich hiermit was machen. Unsere Mutter und Frau Kühn machten sich auf den Weg, mit der Bäuerin zu verhandeln. Obwohl der Bäuerin Geld und Kleider geboten wurden, war diese auch durch Flehen und Bitten nicht bereit, den Frauen ein Fuhrwerk, das eigentlich auch ihr nicht gehörte, zu verkaufen. Mit dem Mut der Verzweiflung entschieden die Frauen, einen Wagen zusammen zu bauen (was unsrer Mutter nicht schwer fiel), damit wir weiterfahren könnten. Als die Bäuerin sah, dass die Frauen Ernst machten, fing sie an zu schreien. Zufällig fuhr ein Auto mit russischen Soldaten vorbei, bei denen beklagte sich die Frau über uns. Mutter konnte sich besser verständigen – sie sprach ein wenig Serbisch – und erklärte unsere Not. Danach hatten die Soldaten keine Einwände mehr und fuhren lachend weiter. Die Bäuerin musste einsehen, dass sie bei den Soldaten nichts erreichte. Als wir den Wagen vom Hof zogen rief sie einige Male, dass wir ihr noch 200 Mark schulden. Mutter rief zurück, jetzt bekäme sie gar nichts mehr.
Wir verteilten das Gepäck auf die beiden kleinen Handwägelchen und das zusammengebaute Fuhrwerk. Der alte Wagen blieb stehen. Da wir nicht wussten, ob unsere Aktion nicht doch noch irgendwelchen Ärger heraufbeschwor, haben wir zugesehen, dass wir so schnell wie möglich von dort wegkamen. Wir fuhren bis zum Eintritt der Dunkelheit und nächtigten im Freien. Hierzu breiteten wir eine Pferdedecke auf den nackten Boden aus und legten uns darauf. Diese Form der Übernachtung wurde uns im Laufe unserer „Heimfahrt“ öfter zuteil.Leider hatte das von uns angeeignete Fuhrwerk auch viele Mängel. Bis zu unserem nächsten Ziel – Wien – benötigten wir eine Woche. Es verging kein Tag, an dem am Wagen nichts repariert werden musste. Meist ging ein Rad zu Bruch, ein anderes Mal brach die Deichsel und dann die Radachse. Großmutter hatte da schon einen Spruch parat: „Wenn der Herrgott nimmi waaß, was er uns antu soll, fallt a Wägeli um oder brecht a Rad am Waga“. Einen Schmied zu finden, der auch bereit war, uns zu helfen, erwies sich oft als sehr schwierig. Aber Mutter gab nie auf. Am Ende erreichte sie immer, was sie wollte. Die Fahrt nach Wien werde ich (Anna) nie vergessen. Die vielen kriegsgeschädigten Häuser, Trümmer und Schutt, überall standen Menschen am Straßenrand. Ich sah nur in spöttische, schadenfrohe Gesichter, vereinzelt hörte ich auch „Heil Hitler“ –Rufe, als wären wir Schuld an dem Elend. Wir liefen mit gesenkten Köpfen neben unserem Wagen her und hatten nur den einen Gedankten: „Rausaus dieser Stadt!“ Was aber gar nicht einfach war. Wir hatten weder einen Stadtplan oder eine Landkarte. Die Straßen nahmen kein Ende. Pausenlos ging es den ganzen Tag an einem Meer von Häusern vorbei, ohne ein Ende der Stadt zu sehen. Allmählich fragten wir uns besorgt, wo wir wohl übernachten werden? Endlich, es fing schon an zu dämmern, wurden die Häuser immer weniger und bis zur Dunkelheit waren wir am Stadtrand angelangt. Erleichtert wurde beschlossen, nie mehr durch eine Stadt zu fahren. Daran hielten wir auch fest. Auf dem ganzen Weg war Wien die einzige Stadt, die wir durchliefen. Trotz meiner unerfreulichen Erinnerung an Wien widerfuhr mir auch eine wohlwollende Geste.
Während wir an den vielen Menschen vorbei liefen, wurde mir von hinten etwas in die Hand gedrückt. Ich drehte mich um, konnte aber nur in ablehnende Gesichter blicken. Mein Spender gab sich nicht zu erkennen. War das eine Überraschung – das Päckchen stellte sich als belegtes Wurstbrot heraus. Meine Schwester und ich aßen mit Genuss eine schon seit langem nicht mehr gekannte Delikatesse – denn Hunger war unser ständiger Begleiter. Wenn es etwas Warmes zu Essen gab, dann war es eine Einbrennsuppe. Dazu nahm man einen Dreifuss und bräunte in einer Pfanne etwas Mehl, Wasser und Salz dazu – fertig war die Mahlzeit. Sofern wir hatten, gab es dazu ein Stück Brot. Abgewandelt wurde dieses Gericht manchmal mit ein paar jungen Zwiebeln, die wir bei Gelegenheit aus sogenannten Schrebergärten mitgehen ließen. Ansonsten war auf den Feldern und meist auch in den Gärten nichts mehr zu holen. Durch das Kriegsgeschehen, lagen die Äcker brach. Dass es uns nicht noch schlechter ging, war der Verdienst meiner kleinen Schwester (Vroni). Mutter konnte auf mich einreden, so viel sie wollte, meine Hemmschwelle, in ein Haus zu gehen und um einen Almosen zu bitten, konnte ich nicht überwinden. Das blieb der kleinen Vroni überlassen. Vroni: Unser Ernährungsplan war täglich ein Überlebenskampf. Wir waren allein auf uns gestellt. So hatte man mich, als Elfjährige, um Brot betteln geschickt – meistens mit Erfolg. Einmal hatte ich ein Stück Nuss-Strudel bekommen (es muss ein Sonntag gewesen sein). Das war vielleicht eine Köstlichkeit, die ich selbstverständlich mit meiner großen Schwester teilte. Es gab aber auch schlechte Tage. Ich erinnere mich noch genau, dass ein Mann seinen Hund auf mich hetzte; da habe ich ganz arg geweint und mir geschworen, ich gehe nie wieder in ein fremdes Haus.
Am nächsten Tag kam meine Freundin Fränzi (Tochter von Frau Kühn) mit einem großen Stück Brot, da hatte ich denVorfall vom vorigen Tag vergessen und machte mich wieder auf den Weg zumbetteln. Schließlich konnte ich meine 5-köpfige Familie nicht verhungern lassen.
Anna: “Jeder Tag, den wir auf unserer Reise durchliefen, hatte seine Mühe. Die Erlebnisse, die sich bei uns für immer einprägten, versuchen wir der Reihe nach wiederzugeben. Unsere Mütter entdeckten, dass wir drei Mädchen Läuse hatten; erst bei Fränzi, nach einigen Tagen auch bei uns (die Erwachsenen blieben verschont). Niemand wunderte sich darüber. Hygiene wurde in dieser Zeit sehr klein geschrieben. In den Kleidern, die wir tagsüber trugen, schliefen wir auch und am nächsten Tag ging es so weiter. Ein Kleiderwechsel war nicht oft angesagt. Kamen wir an einem Brunnen vorbei, wuschen wir uns; wenn nicht, störte es uns auch nicht. Uns plagte Hunger, Müdigkeit und die ständige Angst vor dem Unbekannten, die uns bis in den Schlaf beherrschte. Uns Kindern waren die Gefahren nicht richtig bewusst, aber wir spürten die Angst der Erwachsenen, deren Andeutungen uns nur noch mehr verunsicherten. Nach jedem Tagesmarsch von 30-35 km wurden erst die Pferde versorgt, was Mutter immer sehr gewissenhaft erledigte. Es erwies sich oft schwierig, an Hafer oder anderes Kraftfutter zu kommen. So manches Kleidungsstück musste im Tausch für Pferdefutter geopfert werden. Anschließend, wenn die Umstände es erlaubten, wurde eine Suppe gekocht und vor Einbruch der Dunkelheit noch nach Läusen gesucht. Dabei vergingen mehrere Wochen, bis wir von den Plagegeistern befreit waren.”
In der zweiten Woche unserer „Heimreise“ hatten wir mal wieder eine kleine Rast auf freiem Gelände eingelegt, als plötzlich wie aus heiterem Himmel zwei Männer vor uns standen und sich interessiert nach unserem Vorhaben erkundigten. Einer der Männer verwickelte Großvater und Herrn Ries in eine Unterhaltung, dabei entfernten sie sich von uns. Großmutter ahnte nichts Gutes und behielt den anderen „Herrn“ immer im Auge. So fiel ihr auf, dass er, während er plauderte gleichzeitig dabei war, die Pferde auszuspannen. So schnell sie konnte stieg sie auf den Wagen. Mit der Peitsche schlug sie auf den Mann ein, gleichzeitig forderte sie die teils ausgespannten Pferde zum Weiterfahren an. Erst dann wurden wir übrigens dessen Absicht gewahr, schimpften mit ihm. Der beabsichtigte Pferdedieb sucht das Weite.
Vroni: “Ein paar Tage später übernachteten wir – wie so oft – in einer etwas abgelegenen Scheune. Am nächsten Morgen wollten wir von dem Feldweg zur Landstraße fahren. Doch die Russen spielten uns einen Streich, in dem sie einen Tisch mit Bänken zum Kartenspielen quer über die Straße stellten; an beiden Seiten verlief ein etwa ein Meter tiefer Graben. Die Soldaten machten den Weg nicht frei, lachten nur und forderten uns auf, weiter zu fahren. Mutter wagte einen Versuch, hatte schon den großen Wagen und ein Wägelchen wieder auf der Straße, dabei fuhr mir das zweite Wägelchen über mein Bein. Ich hatte jedoch Glück; es sah schlimmer aus, als es war. Gleichzeitig sprangen zwei Russen dazu und wollten mich in ein Spital bringen. Ich schrie so laut ich nur konnte – nicht vor Schmerz, vor Angst allein zurück bleiben zu müssen. Das einzig Positive bei diesem Unfall war für mich, dass ich den ganzen Tag nicht laufen musste.”
Anna: “Meine Schwester war mit ihrer Angst und den Schmerzen so sehr beschäftigt, dass sie den weiteren Ablauf nicht mitbekam. Mutter kostete es viel Nervenstärke, den schweren Wagen über das Hindernis zu bringen, als dann noch Vroni so schrecklich schrie, die Soldaten wollten sie uns nehmen, verlor sie für einen Moment die Beherrschung. Mit einem energischen Griff und den Worten „gib her!“ entriss sie dem Soldaten meine Schwester. Sofort lag eine große Spannung in der Luft, alle hielten den Atem an, selbst die Kartenspieler unterbrachen ihr Spiel. Auf einmal lächelte der von Mutter angefauchte Russe und die übrigen Soldaten gaben den Weg frei und wir zogen weiter. Etwa 3 Tage nach Vronis Beinverletzung erlaubte uns ein Mann, in seinem größeren Gehöft mit mehreren Nebengebäuden zu übernachten. In einer Tenne hinter einer ein Meter hohen Abgrenzung richteten wir unser Lager ein. Für Mutter und Frau Kühn bedeutete es, wie jede Nacht – im Wechsel uns zu bewachen. Mitten im tiefen Schlaf wurde ich an den Beinen nach unten gezogen, Mutter flüsterte ganz leise: „Renn! Lauf!“. Ich sah auch schon den Schatten eines Russen mit einem Bein über das Mäuerchen steigen. Lautlos lief ich so schnell es nur ging im Hof umher. Weit und breit war niemand zu sehen. Ich wusste nicht, wohin ich laufen sollte, noch warum. Die Angst vor etwas Großem, Unbekanntem ging schon seit Kriegsende mit uns einher. Irgendwann kam ich an einem Nebengebäude vorbei, eine Männerhand schubste mich mit einem „Pst“ in einen dunklen Raum. Ich konnte nicht erkennen, ob es Freund oder Feind war, es war stockdunkel, und ich bin fast umgekommen vor Furcht. Zu meiner großen Erleichterung hörte ich dann die beruhigenden Stimmen von Großmutter und Frau Ries. In wenigen Minuten befanden sich alle Frauen im Raum. Unser Schutzengel war ein ehemaliger deutscher Soldat, der sich hier, um der Gefangenschaft zu entgehen, versteckt hielt. Er beobachtete die anschleichenden Russen, erkannte unsere Not, nahm das Risiko für sich in Kauf und stand uns bei. Nachdem sich die Lage etwas beruhigte, auch keine Russen mehr gesehen wurden, ging er nochmals ins Freie um zu sehen, was aus Großvater und Herrn Ries geworden ist. Am ganzen Körper zitternd berichteten die Männer, dass die Soldaten ihnen angedroht hatten, sie zu erschießen, wenn sie nicht sofort sagten, wo sich die Frauen befinden. Schließlich mussten sie einsehen, dass die alten Männer keine Ahnung hatten, wo sich die Frauen aufhielten. Vor ihrem Abgang erklärten die Soldaten, dass sie in einer halben Stunde zurück kämen. Wenn sie dann keine acht Frauen (von 11 – 56 Jahren) antreffen, werden Großvater und Herr Ries erschossen. Selbstredend blieben alle bis zum Morgen in dem Versteck. Wir rechneten die ganze Nacht mit der Rückkehr der Russen und waren überrascht,dass die Soldaten sich nicht an unserem Gut vergriffen. Obwohl in dieser Nacht nicht an Schlaf zu denken war, ging die Reise am nächsten Tag im gleichen Tempo weiter. Bei all diesen Vorkommnissen – mit Gott sei Dank gutem Ausgang – wollten wir möglichst keine Nacht im Freien verbringen. Es war noch in Österreich, wir waren auf der Suche nach einem Obdach für die Nacht, als uns in einem Dorf die Leute mit der Begründung, es sei die Cholera ausgebrochen, abwiesen. Im nächsten Dorf wurden wir ebenfalls fortgejagt. Hier kämen die Russen jede Nacht und holten sich die Frauen.”
Jetzt fahren wir in Gottes Namen zum Friedhof, dort wird uns keiner vertreiben. Im schlimmsten Fall bleiben wir für immer dort.
Müde und verzweifelt machte Großmutter diesen Vorschlag
Dieser Satz war das Spiegelbild unserer Stimmung. Uns blieb nichts anderes übrig,wir mussten in dieser Nacht im Freien an einem abgelegenen Platz übernachten. So endete nach 3 Wochen unsere Fahrt durch Österreich. Einen Grenzübergang nach Ungarn bemerkten wir nicht. Es war weder ein Schlagbaum noch ein Grenzposten zu sehen. Dass wir in Ungarn waren, konnten wir nur an den Ortsnamen erkennen. Wo das in Ungarn war, können wir beide nicht angeben, unser Interesse war einzig allein, dass das Elend mal ein Ende nehme. Leider kann Mutter keine Auskunft mehr geben, wie unsere Reiseroute verlief (über diesen Lebensabschnitt wurde wenig gesprochen). Wie sie das Kunststück fertig brachte, ohne Landkarte, nur mangelhaft beschildert in dieser verworrenen Zeit uns auf dem rechten Weg zu führen, können wir im Nachhinein nur bewundern. Ganz grob ist uns in Erinnerung, dass wir durch den Bakonywald und später am Plattensee entlang fuhren. In einem Dorf Bakonyako (?) legten wir unter einem Baum eine Rast ein. Da kam eine Frau auf uns zu (wir hatten selten erlebt, von jemandem angesprochen zu werden). Unter anderem wollte sie wissen, wohin wir gehen. Wir meinten, unser Dorf wäre ihr unbekannt. Sie fragte trotzdem weiter danach, so erwiderten wir: nach Tscheb Welch eine Überraschung als sie erklärte, die Tochter ihres Nachbarn war 1942 einige Wochen in Ferien dort, und von Tscheb sprach das Mädchen oft und in sehr schöner Erinnerung. Natürlich wollten wir wissen, wie sie heißt. Sie ging nach dem Mädchen sehen und kam mit der Resi Leber zurück. Wir erkannten uns gleich wieder, haben wir doch des Öfteren miteinander gespielt. Sie erkundigte sich nach der Familie Hans Mayer, ihrer Gastgeberfamilie, und erzählte von den schönen Tagen in Tscheb. Gleichzeitig fragten wir nach der Anna (Nanni), die bei uns in Ferien war. Sie wohnte leider im Nachbarort. Die Begegnung mit der Resi erhellte unsere Stimmung und gab uns wieder etwas Mut.
Die Menschen in Ungarn waren uns gegenüber nicht so ablehnend, es war mehr eine Gleichgültigkeit, die sie uns entgegenbrachten. Zwei Vorfälle sind uns noch in Erinnerung. Beide Male kamen junge Männer in Zivil und führten uns mit dem Wagen in einen Hof und durchwühlten alles. Sie ließen auch etwas mitgehen, dann konnten wir weiter ziehen. An uns elf Personen machten sich die Entbehrungen sehr bemerkbar, alle waren so erschöpft, gesprochen wurde nur das Nötigste; war eine mal ganz verzagt, ermutigten die anderen sie, weiter zu machen. Allein der Gedanke, jeder Tag bringt uns näher in die Heimat, gab uns Kraft, nicht aufzugeben. Wir setzten unseren Weg automatisch fort. Mit der Nahrungsbeschaffung war es auch nicht besser. Immer noch musste Vroni betteln gehen. Mit Geld war nicht viel anzufangen, da es ziemlich wertlos war. Mutter konnte gelegentlich mal etwas besorgen. Auch für die Pferde war es oft schwierig, nach wie vor musste ein Tier mal frisch beschlagen werden oder am Fuhrwerk ging auch mal etwas zu Bruch. Das waren immer große Probleme. Pausenlos, ohne einen Ruhetag, setzten wir unseren Weg fort.
Nach etwa 3 Wochen Ungarnmarsch kamen wir in Bacsborsod (Batschka) an. Mutter hielt wieder nach einer Übernachtungsmöglichkeit Ausschau, da erfuhr sie das Entsetzliche: Die Grenze nach Jugoslawien sei seit einigen Tagen gesperrt. Alle waren wie gelähmt. Glaubten wir doch in 2-3 Nächten wieder zu Hause zu sein und unsere Daheimgebliebenen begrüßen zu können und, dass unsere Not somit ein Ende hätte. Dieser Traum zerplatzte jäh. Dennoch hatten wir die Erwartung, die Grenzsperre sei bestimmt nur für ein paar Tage. Ein Geräteschuppen der Gemeinde wurde uns als Aufenthaltsort zugewiesen. Jedoch schwand mit jedem Tag unsere Hoffnung mehr, bald wieder zu Hause zu sein. Überall begegneten wir Menschen aus unserer Gegend, die auf dem Heimwegwaren. Die vielen Leute, die nicht weiterfahren konnten, auch in anderen Ortschaften, waren ein Problem. Jeder musste selbst für sich sorgen, von Amts wegen gab es keine Unterstützung. Wir Mädchen wurden in einen Haushalt geschickt.
Vroni: “Ich war bei einer alten Ungarin als Gänsemagd tätig. Es gab wieder gutes Essen. Mein Problem war, dass die Frau nur ungarisch sprach, so musste ich mich anstrengen, diese Sprache einigermaßen zu lernen.”
Anna: “Ich kam in einen ungarisch-deutschen Haushalt, die Frau – eine Ungarin – war mir zugetan, das Essen war gut. Der Hausherr, ein Deutscher, übersah mich meist. Mit seiner Mutter sprach er ausschließlich deutsch, mir gab er seine Anweisungen immer auf ungarisch, und wenn ich sie nicht verstand wurde er sehr ungehalten, deutsch sprach er nie mit mir. Dann war da noch ein 17-18 Jahre alter Sohn, ein überzeugter Kommunist, der keine Gelegenheit ausließ, mir zu zeigen, was er von den Deutschen hielt. Am Vormittag half ich im Haushalt, nachmittags hütete ich zwei Kühe auf der Weide. Nachts schlief ich in einem Doppelbett mit der schwerkranken Mutter meiner Arbeitgeberin. Eines Nachts wachte ich auf, da lag die Frau tot neben mir. Mit einem Schreikrampf weckte ich die ganze Familie auf. Sie mussten lange auf mich einreden, bis ich wieder ruhiger wurde. Einige Tage nach der Beerdigung wurde ich zum Kummer meiner Mutter (wieder ein Esser mehr) aber zu meiner großen Erleichterung zu meinen Angehörigen zurück geschickt. Die Ernährungsfrage war eine Katastrophe. Für uns konnte Großvater oder Mutter auf einem größeren Anwesen mit den Pferden manchmal arbeiten, natürlich gegen Naturalien. Dass es zu einer Grenzöffnung kommt, glaubten wir immer weniger, aber der Zustand, in dem wir lebten war auch haltlos. Der Schuppen, nur ein Bretterverschlag, war nicht für einen längeren Aufenthalt gedacht. Nach mehreren Anfragen gab uns der Bauer, bei dem Mutter gelegentlich arbeitete, im Gesindehaus für uns fünf Personen einen Raum zum Wohnen. Die Familien Ries und Kühn blieben noch in dem Schuppen: Das größere Pferd verendete. Sein Alter und die großen Strapazen waren zu viel für das Tier. Mittlerweile kamen auch immer mehr ehemalige deutsche Soldaten.”
Es war ein ständiges Suchen nach Angehörigen. Nach etwa 8 Wochen Aufenthalt in Borsod besuchte uns Herr Gillich aus Tscheb, der ebenfalls auf der Suche nach seiner Familie war. Beim Abschied versprach er uns, unseren Vater (Gregor Stefan) und unseren Onkel (Josef Zindl) zu schicken. Vier Tage später geschah das Wunder: Unser Onkel stand plötzlich vor der Tür. Zunächst waren alle sprachlos vor Glück, dann wurde gelacht und geweint. Dabei erzählte er, dass er, genau wie wir, nicht nach Tscheb konnte. Er hatte in Kumbaja (rd. 30 km von Borsod entfernt) bei einer Familie Arbeit und es gehe ihm gut dort. Am folgenden Sonntag war in Kumbaja Kirchweih. Dazu wurden wir Mädchen eingeladen, was für uns ein Fest bedeutete (gab es doch gutes Essen). Am Montagmorgen standen wir im Hof in Kumbaja beisammen, als ein alter Mann in zerlumpten Kleidern auf uns zugeschlurft kam (heute würde er als Gammler angesehen werden). Als er vor uns stand, erkannten wir unseren Vater.
Es war unbeschreiblich, alle waren nur noch glücklich. Ihm war es nicht gut ergangen. Er hatte sich erst vor einigen Tagen, auf dem Weg nach Russland, unter großer Gefahr von dem Gefangenentransport entfernt. Vor Schwäche hatte er fast keine Kraft mehr zum Laufen. Er begegnete ebenfalls Herrn Gillich, der sein Versprechen hielt. Sofort machten wir uns auf den Weg zu unseren Angehörigen. Mutter sah uns kommen. Als sie uns von weitem sah, sagte sie besorgt zu den Großeltern: „Die bringen noch einen Esser mit“. Großmutter erwiderte, für den haben wir auch noch ein Stück Brot. Erst als wir näherkamen, erkannte Mutter ihren Mann. So viel Glück, nach all dem Leid, dass uns widerfahren ist, konnten wir zunächst nicht fassen. Alle hatten die Hoffnung, es wird jetzt besser. Onkel blieb auch bei uns und Mutter legte mit großer Erleichterung die Hauptverantwortung in die Hände der Männer.
Der eine Raum, der uns zur Verfügung stand, war für alle viel zu klein. Die Männer machten sich auf die Suche nach einer größeren Bleibe. Auf einem etwa 4 km von Borsod entfernt gelegenen Sallasch (einfaches Haus auf dem Feld) erlaubte man uns zu wohnen. Die Nahrung bestand in der Hauptsache aus Maisbrot, nur grob geschroteter Mais, Sauerteig, Salz. Das Brot war so rau, dass bei allem Hunger, den wir hatten, es einer Überwindung bedurfte, davon zu essen. Doch jede Möglichkeit, zu etwas Essbarem zu kommen, wurde wahrgenommen. Einen kleinen Beitrag zum Überleben
leistete ich, Anna, auch. Aus dem Maiskolbenbast fertigte ich Einkaufstaschen an. Täglich eine Tasche, wozu ich 6-7 Stunden Zeit benötigte. Waren fünf Taschen angefertigt, gingen Vater und Vroni damit hausieren. Für uns war das ein schlechter Stundenlohn. Bei guter Bezahlung 1 Huhn oder 2-3 kg Mehl, manchmal auch nur 15 Eier. Nach 4 Wochen war auch diese Einnahmequelle ersiegt. Es kam das Weihnachtsfest, das noch trostloser als das letzte war. So ohne Aussicht auf eine Veränderung unserer Situation. Es waren auch schon Gerüchte im Umlauf, dass es den Leuten zu Hause schlecht geht, nur etwas Genaues wusste niemand. In der Familie wurde viel über unsere Lage gesprochen. Allmählich kamen wir immer mehr zu der Überzeugung, dass sich hier für uns keine Zukunft bietet. Vater und Onkel besprachen sich mit anderen Männern aus unserer Gegend, die ebenfalls keine Alternative sahen in Ungarn zu bleiben und kamen zu dem Entschluss, eine Ausreise nach Deutschland zu wagen. Pferd und Wagen wurden verkauft. Mitte Februar 1946 war alles geregelt. Ein Waggon stand uns zur Verfügung, in dem etwa 40 Menschen mit Gepäck untergebracht wurden. Es dauerte einige Tage, bis wir in Sinsheim (Baden- Württemberg) ankamen. Dort mussten wir mit ungefähr 100 Personen in einem ehemaligen Jugendstift nochmals 3 Wochen das Lagerleben teilen. Endlich, am 20.März 1946, kamen alle in die umliegenden Ortschaften. Für uns und noch für weitere 30 Leute war das 16 km von Sinsheim entfernte Eppingen Endstation. Wir waren die ersten Flüchtlinge in Eppingen.
Vor dem Schulhof warteten wir auf die Zuteilung einer Wohnung. Die Leute vor Ort hatten ihre eigenen Probleme. Es war niemand begeistert, uns aufzunehmen. Nach mehreren Stunden, die wir im Freien warteten, kam eine Frau (Frau Heitz, sie wohnte gegenüber der Schule) auf uns zu mit einem großen Blech Apfelkuchen. Den verteilte sie, zuerst den Kleinen, bis alle Kinder etwas hatten. So einen guten Apfelkuchen aßen wir in unserem Leben nicht mehr. Alle hatten schon ihre neue Wohnung bezogen, nur für die Großeltern gab es noch keine Unterkunft. Auf einmal stand Frau Heitz wieder da und nahm unsere Großeltern zu sich in ihre Wohnung. Der kleine 6jährige Sohn Egon musste mit seiner Oma das Zimmer teilen, damit die Großeltern auch eine Bleibe hatten. Diese großherzige Geste verband uns in dankbarer Freundschaft – so lange Frau Heitz lebte.
Mit der hilfsbereiten Frau Heitz, die sich viel Zeit für uns nahm, konnten wir uns bald – nach anfänglicher Ablehnung der Eppinger Bevölkerung – hier eingewöhnen. Uns wurden zwei kleine Räume zugeteilt. So gesehen ging es uns schon viel besser. Allmählich kamen wir wieder in ein normales Leben. Heute können wir uns nicht mehr vorstellen, nicht in Eppingen zu leben. Wir fühlen uns wohl hier, haben unser Leben hier aufgebaut mit Kindern, Enkelkindern und schon Urenkeln. In Dankbarkeit sind wir mehr denn je davon überzeugt, wir standen, trotz vielerNöte, unter einem gütigen Schutz. Im Nachhinein ist es für mich immer noch mehr als ein Wunder, wie auch die Alten die Strapazen ertrugen und dass weder sie noch wir anderen jemals ernsthaft auf dem ganzen Weg erkrankten. Für mich wird die Liebe zu Tscheb in seiner Einmaligkeit immer bleiben.
Dieser Bericht wurde von Anna Pfefferle geb. Stefan im August 2011 in Eppingen verfasst und im 40. Tscheber Heimatbrief / Dezember 2011 veröffentlicht.