Eine grauenvolle Zeit im Hungerlager Jarek (Bački Jarak) & Vernichtungslager Kruschiwl (Kruševlje)
Am 2. Juni 1945 sind wir, unsere Mami Elisabeth Seider geb. Bittermann (36 Jahre), mein Bruder Michael (14 Jahre), meine Schwester Elisabeth (6 Jahre) und ich, Eva (11 Jahre), aus unserem Haus in Tscheb, Kleinhäuslergasse 7, getrieben worden. Es war der Tag der „Austreibung der Deutschen“, die zu diesem Zeitpunkt noch in ihren Häusern in Tscheb lebten. Unser Daddi Valentin Seider (37 Jahre) war beim deutschen Militär und zu dieser Zeit schon in Gefangenschaft.
Unsere Mami war an diesem Morgen zu Lunova‘s in unserer Gasse Milch holen gegangen und kam bald wieder zurück. Sie schrie: „Kinder steht auf, wir müssen fort!“
Wir Kinder hatten noch geschlafen und sprangen sofort sehr erschrocken aus den Betten, waren so geschockt, dass wir unsere Kleider nicht gleich fanden. Es hatte dann gar nicht lange gedauert, da kamen ein Partisan und eine Frau ins Haus. Die Mami packte in Eile noch ein kleines Binkl. Kaum war sie damit fertig, da trieben sie uns schon aus dem Haus raus. Mami wollte nochmals zurück ins Haus, den Kamm holen, da sie vor lauter Aufregung und Eile uns Mädchen gar nicht gekämmt hatte. Doch sie durfte das Haus nicht mehr betreten. Der Partisan sagte: „Sie brauchen keinen Kamm mehr!“ Wir mussten zuerst zur Gratis-Fabrik gehen. Dort wurden den ‚Ausgetriebenen‘ Kleider, gute Schuhe und Wertsachen, wie z.B. Schmuck und Uhren, abgenommen. Es war sehr heiß und alle mussten den ganzen Tag draußen in der großen Hitze stehen. Später am Tag mussten wir mit den vielen anderen aus den Häusern verjagten Tschebern in die Bauerngasse zur mehrstöckigen Hopfendarre gehen. Es kamen so viele Menschen dort hin, dass man sich kaum noch bewegen konnte. Die Bauerngasse wurde zum Tscheber Ortslager. Nach etwa zwei Wochen sind die Leute „sortiert“ worden. Arbeitskräfte wurden zu einem Transport zusammengestellt und abgeholt. Mein Bruder Michael blieb mit anderen Buben im Tscheber Ortslager zurück und musste am Donaudamm Kühe und Schweine hüten. Im Frühjahr 1946 mussten diese Buben ins Arbeitslager Palanka gehen und wurden auf einen größeren Sallasch (Gut) zum Arbeiten eingeteilt. Ich gehöre zu den Kindern, die mit den alten Leuten (Männer und Frauen) und Frauen mit Kleinkindern am 17. Juni 1945 aus dem Tscheber Ortslager in der Bauerngasse rausgeholt wurden und „in einer langen Kolonne“ zur nächsten Bahnstation, ich meine nach Bulkes, zum Bahnhof laufen mussten.
Dort wurden wir in Viehwaggons geladen, und dann ging es nach Jarek, wo eine grauenhafte Zeit für uns begann (großer Seufzer von Eva Ziegelbauer an dieser Stelle). Diese Deportation wurde vorgenommen, während sich die arbeitsfähigen Tscheber Lagerfrauen bei der Feldarbeit außerhalb befanden. Die verschleppten Tscheber wurden in einem Viehwaggon transportiert, standen ganz eng aneinander eingepfercht (wieder großer Seufzer). Es war ein heißer Sommertag. Der Güterzug hatte mehrere Waggons, da von der ganzen Umgebung die Leute aus den Ortslagern zusammengefasst worden waren. Alle, die nicht mehr zur Arbeit eingesetzt werden konnten, sollten nach Jarek. Unterwegs gab es Tote. Die Partisanen hatten die Toten dann aus dem Zug geschmissen. Einfach so. In unserem Waggon hieß es plötzlich: Da ist ein totes Kind. Ich meine mich erinnern zu können, dass es ein kleines Mädchen war. Auch es wurde von den Partisanen aus dem Waggon rausgeworfen. Das war furchtbar. Das letzte Stück nach Jarek mussten wir – streng bewacht von den Partisanen – zu Fuß gehen. Bei dem Marsch auf einem Feldweg sah man in der Nähe Männer, die Feldarbeit verrichten mussten. Mein Großdaddi Anton Seider (70 Jahre) , der zuvor im Arbeitslager Rudolfsgnad interniert war, befand sich unter diesen Männern. Sie waren halb verhungert, arbeiteten alle bei der großen Hitze mit nacktem Oberkörper, und da keiner mehr ein Hemd anhatte, konnte man die Rippen zählen, so abgemagert waren sie. Später, als ich meinen Anton-Großdaddi im Hungerlager Jarek gefunden hatte, sagte er mir, dass er uns bei diesem Marsch vor Jarek vom Feld aus gesehen hatte. Die etwa 400 Häuser des donauschwäbischen Dorfes Jarek hatten vor uns schon tausende Menschen aufgenommen. Jetzt wurden auch wir in einem solchen Haus, in dem alle Räume belegt wurden, untergebracht. In unserem Raum waren mindestens 10 Personen, Kinder und Erwachsene, zusammen. Pritschen gab es keine. Der harte und kalte Holzboden, auf den wir das in den Stallungen gefundene Stroh streuten, wurde unser „Schlafplatz“. Ans Kopfende kamen unsere paar armseligen Sachen, dienten als Kissen. Wir lagen wie Heringe nebeneinander, Mensch an Mensch. Zum Zudecken hatten wir nichts. Wir schliefen in unseren Kleidern auf dem Stroh. In der Mitte wurde das Zimmer durch einen „Pfad“ geteilt. Bald hörten wir, dass unser Anton-Großdaddi auch im Jareker Lager ist. Daraufhin habe ich ihn überall im Ort so gut ich konnte gesucht und irgendwann auch gefunden. Der Anton-Großdaddi war ein bisschen weiter weg von uns in einem anderen Haus, aber man konnte hinkommen. Er war mit meiner Julitant‘, seiner Schwiegertochter, der Wischte Juli (Wist Juliane), und anderen Internierten in einem Zimmer untergebracht. Unsere Julitant‘ hatte zwei kleine Kinder: Ein 5-jähriges Mädchen mit dem Namen Hannelore und ein 6 Monate altes Baby, das auf den Namen Herta Theresia getauft war. Da es für das Baby keine Milch gab, musste es in allerkürzester Zeit erbarmungslos verhungern.
Tot sah es wie eine weiße Wachspuppe aus, das Bild werde ich nie vergessen.
Es dauerte nicht lange, da wurde unsere Mami aus dem Jareker Lager in ein Lager nach Pašićevo gebracht. Sie wurde dort zur Feldarbeit eingesetzt. Nun durfte der Anton-Großdaddi zu uns beiden Kindern kommen. Wir Kinder von 6 bis 10-11 Jahren mussten auf dem Kukuruzfeld ‚Maisstumpen‘ sammeln. „Maisschtumpe kloppe fer die Lagerkuchl“, wie mr gsagt hot im Lager. Manchmal sind einheimische Menschen gekommen, haben uns bei der Arbeit zugeschaut und uns auch oft was zu essen mitgebracht. Aber das durften sie uns nicht geben. Wir Kinder wurden von den Partisanen ganz arg bewacht, und manchmal waren sie richtig wüscht mit uns. Wenn ein ‚guter Partisan‘ uns bewacht hat (Eva Ziegelbauer weint an dieser Stelle), dann – ach ja, so manch‘ einer hatte auch Mitleid mit uns Kindern bekommen – dann ließ er zu – , dass wir Essen von den Leuten nehmen durften. Ich erinnere mich, dass ich dann vor Freude geweint. Später waren wir den ganzen Tag in einem Ghetto, durften nicht auf die Gasse hinausgehen. Alle standen sozusagen unter Hausarrest, was für uns Kinder besonders schlimm war, denn wir wollten herumrennen und spielen. Und ich war ein lebhaftes Kind gewesen. Alles um uns herum war eingezäunt. Man durfte nur hinaus zum Essen fassen (= Essen holen). Das bedeutete, wir durften nur auf die Gass‘ gehen, um zu bestimmten Zeiten Essen zu holen. Dazu mussten wir ein ganz schönes Stück laufen. Gebietsweise wurde für die Internierten in verschiedenen Küchen gekocht. Aus einem Kessel wurde Gerstensuppe oder Krautsuppe geschöpft, beides ohne Salz, aber oft mit Würmern und Käfern drin (wieder eine lange Pause Das Essen im Hungerlager Jarek war miserabel, es war von Anfang an eine Hungerkost. Es gab so wenig zu essen, dass wir ständig Hunger hatten. Nach einiger Zeit bestand das Frühstück aus ein paar dunkelbraun gerösteten Gerstenkörnern mit warmem Wasser, sogenanntem Kaffee. Den Kaffeesatz hat man vor lauter Hunger auch aufgegessen. Die Tagesration Maisbrot (Kukuruzbrot) war zwei Finger breit und hart wie Stein. Einmal merkten wir, dass kleine Glassplitter im Maisbrot eingebacken waren. Es wurde so allerhand ins Brot gemischt. Später haben die Kinder ein Stück Graubrot bekommen. Nachts konnte ich oft nicht schlafen, weil der Magen geknurrt und wehgetan hatte. Da wir uns nie satt essen konnten, waren wir immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Oft haben wir Gras mit Wasser gekocht und gegessen. Im großen Innenhof wuchs die Vogelmiere (Hühnerdarm), wozu man in Tscheb Hinkelsdärm sagte. Dieses vermeintliche „Unkraut“ war reichlich vorhanden, und wir haben davon sehr viel gegessen. Ebenso gruben wir viel Meerrettich aus, brühten diesen ab und aßen ihn. Jedes Haus hatte ein großes Eingangstor, das bis zum angrenzenden Nachbarhaus verlief.
Manchmal sind wir Kinder von innen darauf gestiegen, um auf die Straße zu schauen. Hinter dem Tor begann der große, in sich geschlossene Innenhof. So war die Bauweise in allen donauschwäbischen Dörfern. Wir waren eingesperrt, aber neugierig, wie Kinder halt schon sind. Eine ganz böse Partisanin ritt ständig mit ihrem Pferd umher. Wenn wir aufs Tor stiegen und hinausschauen wollten, kam sie und hat uns auf die Finger gehaut. Noch nicht mal Es dauerte eine Weile, da gelang es Mami, wieder zu uns nach Jarek zurückzukommen. Sie war sehr couragiert und brachte es fertig, sich ins Lager „rein zustehlen“. Das war ziemlich gefährlich, da wir so stark bewacht wurden. Tag und Nacht war der Ort mit Wachposten umstellt. Als Mami kam, war ich so unterernährt und schwach, dass ich nicht mehr stehen oder sitzen konnte, nur noch liegen. Ich war bei der Geburt ein 7-Monatskind, hatte wahrscheinlich immer schon viel nachzuholen und war von jeher ein guter Esser. Jetzt musste ich sehr hungern und war dadurch sehr geschwächt. Meine kleine Schwester kam zu dieser Zeit irgendwie mit der Lage noch besser zurecht. Ich war schon so dünn und abgemagert, dass manche uns für Zwillinge hielten. Zum Glück hatte unsere Mami Zwiebel, Paprika, Tomaten und a bissl Speck bei sich, was sie unter ihrer Magenbinde verstecken konnte. Sie hatte schon lange Magensenkung gehabt und eine solche Binde tragen müssen. Es bedeutete meine Rettung, dass Mami auf diese Weise immer mal wieder Essbares ins Lager schmuggeln konnte.
Unsere Mami war eine mutige Frau. Durch ihre Initiative konnte wenigstens unser Raum im Winter etwas geheizt werden. Im Zimmer befand sich ein Ofen. Damit wir was zum Brennen hatten – es war ja so bitterkalt – zerlegte sie einige ‚Holzklo’s (eine Art Toilette im Freien). Das „Zerlegen“ machte sie jeweils bei Nacht im Schutz der Dunkelheit. Jemand musste dann Wache stehen und aufpassen, dass niemand in der Nähe war oder ankam. Die Bretter nahm sie mit in unser Zimmer und streute Stroh darüber. Wir schliefen so lange auf den Brettern, bis wir sie als Brennholz brauchten. Dann zerhackte Mami das versteckte Brennmaterial. Angeheizt wurde nur nachts und da musste man auch sehr vorsichtig sein, denn heizen war nicht erlaubt. Auf diese Weise war der am Tage kalte Raum im eisigen Winter wenigstens einmal wollte Mami ein Holzklo („Holzheisl“) umschmeißen, als sie plötzlich eine Stimme hörte: „Ach Gott, ach Gott, lass mich bloß noch raus! Als diejenige raus war, zerlegte Mami das Holzklo und bedeckte, so gut es ging, die Stelle auf der das Holzklo gestanden hatte, mit Erde. Für die Holzbeschaffungsaktion benutzte sie ein Fleischhackerbeil. Ich weiß nicht, wo sie das her bekommen hatte. Sie hat immer etwas gehabt, hat sich zu helfen gewusst. Zu guter letzt hat es keine „Holzheisl“ mehr gegeben. Alle hatten sich nämlich, so gut es ging, irgendwie dieses Heizmaterial beschafft, um die große Kälte des Winters zu überstehen. Es wurde dann ein langer Graben gegraben mit einer langen Stange davor. Wenn man „musste“, hat man dann im Freien gesessen. Auch bei der allerschlimmsten Kälte saßen alle auf der langen Stange. Ich hab mich immer sehr geniert so zu sitzen, aber es war notwendig und wenn man musste, dann musste man halt.
Die Verunreinigung wuchs. In einem Haus waren oft 40-50 Menschen untergebracht, die sanitären und hygienischen Verhältnisse waren infolge der Überbelegung katastrophal. Die Ausbreitung der Läuse im ganzen Lager war die Folge. Es gab keine Wäsche zum Wechseln. Neues Stroh war meist nicht vorhanden. Im ganzen Lager gab es keinen Arzt oder eine Medizin. Bald traten schlimme Krankheiten auf. Es hat nicht lange gedauert, da wurde auch unsere Julitant‘ schwer krank. An ihrem Kopf hatten sich durch die Unterernährung mehrere große offene Stellen (Kopfwunden) gebildet, die immer voll Läuse waren, wie Läusenester. Sie hatte Kopftyphus und wusste nicht mehr, was sie tat, z.B. machte sie ihre Notdurft ins Essgeschirr. Weil sie ganz verwirrt war, konnte sie ihr noch lebendes 5jähriges Töchterchen Hannelore dann nicht mehr bei sich haben. Meine Mami holte das Mädchen zu uns ins Zimmer. Eine Weile hat es noch gelebt, musste aber bald an Wassersucht und Unterernährung sterben. So lange es lebte, hat es immer wieder gesagt, „Mami ich möchte Nudele“. Es hat bis zu seinem Tod immer wieder gesagt, „dass sie doch Nudele will“. Es gab keine Nudele, die Kleine musste elendig verhungern. Wie alle kranken Internierten war sie ohne jegliche ärztliche Hilfe gewesen. Als sie gestorben war, hat man sie in eine Decke eingenäht und im Zimmer liegen lassen. Nachdem sie abgeholt worden war, blieb durch diese Wassersüchtigkeit eine ganz große Wasserlache zurück. Das war ein sehr Wir bekamen alle Kopfläuse. Oft sind wir den ganzen Tag gesessen und haben uns gegenseitig gelaust. Dann sind wir wegen der Läuse alle kahl geschoren worden. Ich hatte immer ein Kopftuch auf, weil ich mich ohne Haare geschämt habe. Immer wieder haben die Menschen ihre Wunden gereinigt, aber das hatte wenig Wert. Die Läuse sind immer wieder gekommen. Ja, so war es halt. Immer wieder hatten wir versucht, die Kleider, die auch verlaust waren, zu reinigen und die Läuse am Körper zu entfernen. Immerzu haben wir das gemacht. Es gab nichts, womit wir uns vor dieser Plage hätten schützen können. Ich bekam die Krätze (Hautkrankheit). Da wir genug Holz hatten, haben wir Holzkohle gemacht. Wir haben dann die Holzkohle 14 Tage in Wasser eingeweicht und mit der ‚Lauge‘ die befallenen Stellen, die ganz furchtbar juckten (vorwiegend Hände und Gesicht) gewaschen. Das gab etwas Linderung. Wegen der Unterernährung bekam ich auch offene eiternde Stellen zwischen den Fingern und auf den Handrücken. Auch gegen den Durchfall haben wir Holzkohle genommen. Einen Arzt oder irgendeine Medizin – ich sagte es schon einmal – gab es in dem ganzen großen Hungerlager Jarek nicht. Jeder war auf sich alleine gestellt.
Nachdem meine Mami wieder ins Lager nach Jarek zu uns zurück gekommen war, ist der Anton-Großdaddi zu Julitant zurückgegangen, sie war ja so schwer krank. Nicht nur das Baby von Julitant‘ war tot, sondern auch sie starb und bald darauf war auch ihr 5jähriges Mädchen verhungert. Wir vermissten unseren Anton-Großdaddi schon einige Tage. Auch er war mittlerweile sehr sehr unterernährt und ohne Kraft. Jetzt konnte und wollte er auch nicht mehr leben. Ich ging ihn suchen und da sagte jemand zu mir: „Er ist tot, auf den Wagen geworfen haben sie ihn“. Das zu hören war für mich ganz furchtbar. Ich habe meinen Anton-Großdaddi sehr gerne gehabt und erinnerte mich, dass ich in Tscheb oft mit ihm Speck und Brot gegessen habe, und dann hat er dabei immer so mit den Zähnen geknirscht. Und jetzt hatte er den Hungertod sterben müsen. Mittlerweile wurde das Verhungern und Sterben alltäglich. Sehr viele Lagerinsassen waren schon bis zum Skelett abgemagert, hatten vor entsetzlichem Hunger Schwächeanfälle, andere waren im Fieberdelirium. Wieder andere lagen schon ohne Bewusstsein da oder wimmerten vor Schmerzen, bis sie endlich sterben konnten. Und alle lagen auf dem harten Fußboden im Stroh. In allen Häusern des Lagers, in jedem Raum war der Anblick Entsetzen erregend. Anfangs hat man die Sterbenden im Haus noch zusammen in ein Zimmer getragen. Irgendwann fehlte den Mitinsassen die Kraft dazu und sie blieben mit ihnen in einem Raum zusammen. Manchmal ist man aufgewacht und neben einem lag ein Toter. Viele Menschen sind „vermacht“ (im Kot) auf dem Fußboden gelegen und dahinvegetiert. Die Gerüche waren unerträglich, das menschliche Elend war grauenvoll und unvorstellbar.
In den Häusern, in denen die Lagerinsassen hausen mussten, gab es weder elektrisches Licht, noch Öllampen. Man hatte nur das Tageslicht, in den Wintermonaten war die frühe Dunkelheit im Zimmer. Dann hörte man oft im Raum leises Weinen oder das Stöhnen der Mitbewohner wegen ihrer Schmerzen. Manche sind nur dahingedämmert und schliefen
irgendwann vor Mattigkeit ein. Am nächsten Morgen ging das unsägliche Lausen wieder. Die meisten Insassen waren im Spätsommer (August 1945) vor Hunger und Krankheit so geschwächt und apathisch, dass fast keiner mehr die Kraft hatte, Anteil zu nehmen an dem elenden Verenden, das um ihn geschah. So waren die Toten auch für uns Kinder ein alltäglicher Anblick. Wenn jemand starb, mussten wir Kinder aus dem Raum gehen, aber wir haben doch alles mitgekriegt. Der Totenwagen kam jetzt mehrmals am Tag ins Lager, um überall die Toten einzusammeln. Sie wurden auf den Wagen geworfen, es hingen Arme und Füße runter. Es war entsetzlich und grausam, dies Einem Erlebnis mit großem Entsetzen waren besonders wir Kinder eines Morgens beim Aufwachen ausgesetzt. In unserem Raum war ein Mann im Alter von etwa 25-30 Jahren untergebracht. Wir bekamen – wie schon erwähnt – die täglich zwei Finger breite Ration Maisbrot. Der junge Mann hatte eines Tages alles Brot von den Kindern in unserem Raum (die ganze Tagesration) gegessen, so dass sie an diesem Tag nichts mehr zu essen hatten, und der Hunger war doch so groß! Die Frauen im Zimmer haben den Mann schlimm beschimpft. Am nächsten Morgen sahen wir, dass sich der Mann am großen Nagel, wo sonst der Rucksack hing, in der Nacht mit einer Schlinge erhängt hatte. Jetzt hatten alle verstanden: Er wollte sich vor der verzweifelten Tat noch ein einziges Mal satt essen (Eva Ziegelbauer weint wieder beim Erzählen). Er war immer auf der Suche nach etwas „Essbarem“ gewesen.
Sehr oft war ich auch auf Essensuche. Manchmal habe ich auf einem Misthaufen Essensreste (Speckschwarten und Kartoffelschalen, Melonenschalen) gefunden. Wenn die Partisanen noch einiges daran gelassen hatten, dann habe ich mich gefreut, dass ich wieder ein bisschen essen konnte. Wir haben einen Brennstein (Ziegelstein) genommen, und ein Stück Blech, ähnlich einer Dachrinne, darauf gelegt. Das war dann unser ‚Herd‘. Darauf wurden die Essensreste gewärmt. Feuer wurde angefacht, indem man zwei draußen herumliegende weiße kaputte ‚Porzellanköpfe‘, die noch elektrische Drähte hatten und von ehemaligen Strommasten stammten. gegeneinander warf. Das ergab dann Funken, roch nach Schwefel. Die Töpfe von Verstorbenen, die diese mit ins Lager gebracht hatten, wurden nach deren Tod weitergereicht. Das ging immer so weiter, das Verhungern war ja an der Tagesordnung. Wenn man etwas zum Essen ins Lager hereinschmuggeln konnte und es mal ‚aufheben‘ wollte, musste man darauf schlafen bzw. im Stroh verstecken, damit es einem nicht gestohlen wurde. Der entsetzliche Hunger trieb die Menschen so manches Mal dazu, sich gegeneinander.
In Jarek standen auf der anderen Straßenseite Bauernhäuser, sehr große Häuser, die viel Getreide auf dem Dachboden gelagert hatten. Fast alle ehemaligen deutschen Bewohner aus Jarek waren im Oktober 1944 aus Angst vor den Russen geflüchtet und mussten die ganze Ernte zurück lassen. Beherzt wie meine Mutter war, hat sie sich bei Nacht aus dem Lager raus gestohlen und ging auf die Speicher. Dort waren bereits mehrere Personen zu sehen, alle aus dem Lager, die schon ihre Taschen gefüllt hatten und mitnahmen, was sie tragen konnten. Sie waren froh darüber und haben sich wieder ins Lager rein geschlichen. Das ist gut gegangen, aber manchmal ist es halt nicht gut gegangen. Dann gab es erbarmungslose Strafen. Im Winter war es eisig kalt, Holz hatten wir, aber heizen war nicht erlaubt, doch wir riskierten es – wie schon erwähnt – .Wenn jemand von uns Wache stand haben wir auch auf dem Ofen gekocht, was wir eben so hatten. In der allergrößten Hungersnot hat man – und auch unsere Mami – verzweifelte Maßnahmen ergriffen. Diese hätte man sich vor der Hungerzeit im Lager, in normalen Zeiten in Tscheb, ganz unmöglich vorstellen können. Wir konnten nicht aus dem Lager, aber die Katzen konnten rein ins Lager. Sie wurden eingefangen, geschlachtet und auf dem Ofen gekocht. Es war wie eine Hühnersuppe, fett und gelb, und wir haben das – so riesengroß war der Hunger – gegessen. Meine Tante Leni Schwindel war mit ihrem Sohn Andreas auch bei uns im Zimmer. Auch er hat mit uns gegessen. Andreas durfte anschließend aber nicht in die Nähe seiner Mutter kommen, weil er Katzenfleisch gegessen hatte.
Es hatte nicht lange gedauert, da wurde auch Tante Leni schwer krank, sie hat auch Kopftyphus bekommen. Sie wusste nicht mehr was sie tat, warf alles um. Das war für uns ein schlimmer Zustand. Sie hat sogar den Ofen umgeworfen. Vorher hatte ihr ja nichts gefehlt, sie hatte fleißig gearbeitet im Lager, wo man Brot backte für die Lagerleute. Des Öfteren brachte sie Teig im ‚Busam‘ (Busen) mit und verschiedene essbare Sachen. Oft hatte sie was rein Der quälende, übergroße Hunger trieb mich dazu, eines Tages Spatzen zu fangen. Sie wurden ausgenommen, ins Wasser gelegt und eine Suppe auf unserer „Kochstelle“ gekocht, ohne Salz, das gab es für alle Lagerinsassen nicht.
Ich habe dann eine spezielle „Spatzenfangtechnik“ erfunden und saß tagelang da, um Spatzen zu fangen. Mit Getreide, das meine Mutter aus den Bauernhäusern aus der anderen Gasse geholt hatte, konnte ich die Spatzen anlocken. Da sind dann viele Spatzen gekommen, meine kleinen Hände haben gar nicht so viele Spatzen fangen können. Die Gruber Katl und die Mallok Marie aus Tscheb sind auch zu uns gekommen und haben Spatzen gefangen. Ich glaube, dass die vorgenannten Überlebensstrategien uns vor dem Verhungern gerettet haben. Andere, die das nicht taten, verhungerten. Alles was irgendwie essbar war und gefunden wurde, haben wir verzehrt.
Meine Mutter hat im Garten bei den Partisanen gearbeitet, die haben sie wohl aus dem Lager heraus gekauft. Das weiß ich nicht mehr so genau, ab dann hat sie immer was mitgebracht. Tomaten, Paprika und Gemüse hat sie rein geschmuggelt. Auf dem Dachboden, wo man auch für die Lagerleute gekocht hat, war Frucht und Gerste gelagert. Oft trieb der große Hunger Lagerleute da hinauf zum Stehlen. Die Partisanen haben daraufhin eines Tages ein verhungertes junges totes Mädchen von etwa 17 Jahren – sie war schon steif – zur Abschreckung an die Treppe gelegt, weil so viel auf dem Boden gestohlen wurde. In einem Haus in der Nachbarschaft war ein etwa 12jähriger Junge auch sehr schwer krank. So was habe ich noch nicht gesehen. Es war so schlimm, es war so sehr schlimm! Ihm ist das Geschlechtsteil schwarz geworden und dann abgefallen. Er war erst etwa 12 Jahre alt. Unsere Kleider waren nur noch Lumpen, sie waren inzwischen monatelang täglich getragen worden, und auch nachts hatten wir sie an und schliefen damit auf dem Stroh am Fußboden.
Wenn Menschen starben, deren Kleider noch tragbar waren, wurden diese von Lagerinsassen, soweit sie es kräftemäßig konnten, irgendwie gesäubert und weiter getragen. Die Krankheiten hatten inzwischen mehr und mehr im Lager Jarek zugenommen. Ich erinnere mich aber nur noch an Bauch-, Kopftyphus, Diphterie und Cholera. Das bedeutete, dass schon Tausende von Menschen daran zugrunde gegangen waren. Besonders bei den Alten und Kindern hatte der Tod reiche Ernte.
Als das Hungerlager Jarek Mitte April 1946 aufgelöst wurde, war ich genau 12 Jahre alt. Wir waren alle drei schrecklich abgemagert, aber irgendwie hatten wir die letzten 10 Monate dort überlebt. Danach kamen wir in das Vernichtungslager Kruschiwl – 4 km von der Im Vernichtungslager Kruschiwl (Kruševlje). Auch das Lager Kruschiwl war voll von Internierten. Das unmenschliche Leben in Elend mit Hunger und Tod ging weiter. Die Zustände waren auch da wieder unvorstellbar und sind mit. Hier fanden wir unsere Omami (mütterlicherseits), Bittermann Katharina geb. Ams (64 Jahre), wieder. Sie war schwach und schon sehr krank. Mami, meine Schwester Elisabeth und ich kamen in ein anderes Haus, aber wir waren nicht weit voneinander entfernt.
Meine Omami lag in einem Haus, in dem alle die lagen, die bereits zu schwach zum Aufstehen waren und auf das Sterben warteten. Die Liegestätten waren auch hier, wie in Jarek, der Fußboden und nur mit Stroh belegt, drum herum Steine. Als wir sie öfter besuchten, rief sie mich immer wieder zu sich: „Komm, komm mein Kind, komm her!“ Ich ging immer weiter von ihr weg, ich hatte Angst, weil ihre Augen schon so tief im Kopf drin lagen (der Tod stand ihr schon in den Augen). Sie war so abgehungert, sah wie ein lebendiges Skelett aus und war sehr schwach. Das Letzte, was sie zu uns sagte war: „Wenn ihr nach Deutschland kommt, dann sagt an alle viele Grüße!“.
Wir wussten, dass den Menschen, die in diesem Haus lagen und nicht mehr aufstehen konnten, etwas Flüssiges gegeben wurde, damit sie schneller sterben würden. Auch unserer Omami hatte man etwas eingeflößt, aber sie hatte es nicht geschluckt, es lief ihr aus den Mundwinkeln. Es muss etwas sehr Aggressives gewesen sein, denn diese waren wie ‚aufgefressen’ und richtige Wunden. Es hat dann nicht mehr lange gedauert, dann ist Omami verstorben. Wir waren sehr traurig, doch sie war von ihren großen Qualen erlöst. Meine Mami hat sie in eine Fetzendecke eingewickelt und ‚eingenäht‘. Das war im Lager Kruschiwl erlaubt, im Lager Jarek nicht. Anschließend wurde sie in einen Stall gelegt. Als dort mehrere Tote dazu gekommen waren, kam der Totenwagen und holte sie ab. Die Verstorbenen wurden Im Lager Kruschiwl durfte man sich – im Gegensatz zum Lager Jarek – freier bewegen.
Wir Kinder konnten wenigstens auf die Gasse gehen. Im Dorf waren Partisanen, die die Lagerinsassen bewachten. Wenn die Partisanen die Wache gewechselt haben, war es möglich, aus dem Lager raus zu kommen, sich „raus zu stehlen“. Eines Tages, es war um Weihnachten 1946, haben wir uns zu viert – wir waren Kinder im Alter von 10-12 Jahren – bei Dunkelheit aus dem Lager gestohlen. Wir wollten betteln gehen.
Als wir einen Kanal durchqueren mussten, bin ich ins Wasser gefallen. Ich war nass und es war kalt, ich fror. Wir gingen weiter und kamen zu einer Scheune, in der wir bis zum Morgen blieben. Als es hell war, sind wir in das serbische Dorf Ridjica rein gelaufen, und haben bettelnd bei den ersten Häusern angeklopft. Die Einwohner des Ortes wussten wo wir herkamen, und wo wir auch anklopften, sie gaben uns nichts. Wir Kinder wurden dann wie Schwerverbrecher mit Hunden verjagt. Merkwürdigerweise haben die Hunde uns aber nichts getan. Blitzschnell mussten wir fort rennen, sonst hätten die Leute uns tot geschlagen. Bis zum Dorfende sind wir gerannt, und weiter bis zur Scheune, in der wir die Nacht zuvor verbrachten. Wieder haben wir darin gewartet, dieses Mal bis es dunkel wurde. Mei oh mei, das war damals schrecklich! Ohne dass wir etwas erbettelt hatten, mussten wir zurück ins Lager Kruschiwl. Wir warteten bis die Wachposten wechselten und kamen so im Schutz der Dunkelheit – von den Partisan unbemerkt – wieder ins Lager rein. Alles ging gut, aber leider war alles umsonst gewesen. Oft ist ein Bettelgang auch tödlich ausgegangen. Die Menschen, die erwischt wurden, als sie betteln gehen wollten oder zurückkamen, erwarteten harte Bestrafungen. Sie bekamen Schläge bis sie halbtot waren oder wurden erschossen.
Ich war auch im Lager Kruschiwl immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Da hatte ich mal von einem Pferd den unteren Fuß gefunden, es war noch der Huf dran und ein bisschen Fleisch. Ich habe den Fuß in einen alten Topf getan und ein kleines Feuer auf gemacht. Holz war genug da, hier lag ja überall altes Holz rum, das habe ich gesammelt und angezündet und dann wollte ich den Fuß kochen. Plötzlich kam meine Mutter hinzu und schrie: “Ach Gott, ach Gott, pfui Teifel, was machsch du do?“ Ich wusste gar nicht, warum sie so schrie. Der Grund: Der Pferdefuß war schon in Verwesung übergegangen! Meine Mutter hatte mir erneut das Leben gerettet. Ab jetzt erlaubte sie mir nicht mehr, alleine umherzulaufen. Unsere Kochstelle war, wie schon in Jarek, ein Brennstein (Ziegelstein) mit einem Stück Blech. Darauf haben wir wieder die gefundenen Kartoffelschalen und Essensreste, die wir beim Abfall fanden, gelegt und auch wieder Gras mit Wasser und ähnliches gekocht. Vor Ort war ein Weinstock, der an einem Geländer rankte. Von den Trauben haben wir Essig gemacht, in den wir unser Kukeruzbrot vor dem Essen hinein tunkten.
Im Januar 1947 kam ein Menschentransport aus dem Lager Palanka zu uns ins Lager Kruschiwl, bei dem auch mein Bruder dabei war. Als er zu uns kam hatte er so schrecklich großen Hunger, und wir hatten nur ein steinhartes Kukuruzbrot. Dieses hat er viel zu hastig gegessen. Danach war sein Magen so aufgebläht, dass wir mit ihm zum Lagerarzt gehen mussten (Gott sei Dank gab es im Lager Kruschiwl inzwischen einen Arzt). Wenn ich dieses Brot aß bekam ich danach im Magen ein Gefühl, als hätte ich einen Stein darin liegen. Mittlerweile hatten wir gehört, dass ein Lagerinsasse heimlich Medikamente ins Lager schleuste und Kranke damit versorgte. Wie er die Arznei beschaffte, war nicht bekannt. Bei seiner Arbeit außerhalb des Lagers hatte er wohl irgendwie Gelegenheit, Medikamente zu organisieren. Ich bekam Diphterie. Der gute Mann (es könnte ein Sanitäter oder Arzt gewesen sein) konnte gottlob auch mir helfen. Wir wollten die Flucht aus dem Lager Kruschiwl wagen. Eines Tages, als die Partisanen wieder mal einen Wachwechsel vorgenommen hatten, wollten wir – zusammen waren wir sechs Personen – fliehen. Draußen war es dunkel, sehr neblig und kalt. Wir sind ständig im Kreis herumgelaufen und haben die ungarische Grenze gesucht, doch leider nicht gefunden.
Als es hell wurde, hat man uns entdeckt und gefangen genommen und bis nach Bereg (Bački Breg) getrieben. Ich hatte schon Blasen an den Füßen. Als wir dort ankamen, wurden wir gleich in einen dunklen Keller gesperrt. Ich weiß nicht, wie lange wir im Keller waren. Wir alle hatten fürchterlichen Hunger. Mein Bruder hatte aus dem Keller gerufen, dass wir Hunger haben. daraufhin bekamen wir etwas zu essen.
Dann wurden wir in das Lager nach Gakowa getrieben. Am Wegesrand waren schöne Palmzweige. Mami fragte, ob sie ein paar Zweige abmachen darf. Der Partisan hatte zugestimmt. Es war kurz vor Palmsonntag, das weiß ich noch. Als wir im Lager Gakowa ankamen hatte der Kommandant schon auf uns gewartet. Es war ein ganz, ganz böser Kommandant. Er hat die Palmzweige auf meiner Mutter zerschlagen, und sie musste in den Keller. Dort waren bereits mehrere Personen. Alle standen im Wasser (Foltermaßnahme). Wir Kinder mussten in Begleitung von Partisanen ins Lager Kruschiwl zurücklaufen. Plötzlich war unsere Mami wieder im Lager Kruschiwl. Ich weiß nicht mehr wie lange sie in dem Keller in dem Wasser im Lager Gakowa stehen musste. Es hat danach nicht lange gedauert, da wurde mein Bruder von einem serbischen Bauern aus dem Lager Kruschiwl heraus gekauft. Er konnte sich dann frei bewegen und ließ uns wissen, dass wir uns bei ihm auf dem Daneschützer Hotter, wo er arbeitete, treffen sollten. Wir sind dorthin gegangen und haben uns für einem bestimmten Tag und an einem bestimmten Platz mit ihm verabredet. Das Vorhaben gelang. Zusammen gingen wir weiter zu einem unbewohnten Sallasch. Dort hängten wir die alten Türen vom Haus aus und stapelten mehrere Brennsteine (Ziegelsteine) aufeinander. Darauf legten wir die Türen, die für uns vier in dieser Nacht zu „Betten“ wurden. Die Türen mussten wir deshalb hochlegen, weil so viele große Ratten da waren, Diese huschten die ganze Nacht rein und raus. Wir hatten große Angst bekommen, weil wir wussten, dass diese Tiere auch Menschen angreifen, wenn sie nichts zu fressen finden. Die „Rattmäuse“ fressen zuerst die Nase, das wusste ich. Es war eine Da die Grenze nur wenige Kilometer von uns entfernt war, konnte mein Bruder im Vorhinein auskundschaften, welche Laufwege und Kontrollzeiten die jugoslawischen Grenzposten hatten. So ist unser zweiter Fluchtversuch an diesem Abend im März 1947 nach Ungarn dann glücklicherweise gelungen. Wir waren unbehelligt über die Grenze nach Gatschmar/Ungarn Gleich am nächsten Tag suchten wir uns Arbeit. Mein Bruder kam auf einen Sallasch in Gatschmar als Kuhhirte. Mami ging mit meiner Schwester ins Dorf und fand Arbeit bei einer anderen Familie. Mich hatte sie vorher auf einen anderen Sallasch weit weg vom Dorf zu einer Familie gebracht, die einen Sohn hatte. Die Mutter des Buben wollte mich damals für immer behalten, sie wollte schon immer ein Mädchen. Die Frau hatte gleich Stoffe gekauft, um Kleider für mich zu nähen. Der Sohn war stark eifersüchtig und böse gewesen. Er dachte, ich verstehe nicht, was er sagt. Aber ich habe es verstanden, da ich Gott sei Dank in der Schule in Tscheb ungarisch gelernt hatte. In diesen Tagen der Trennung hatte ich großes Heimweh nach meinen Lieben und viel geweint.
Ich hatte meine Arbeit, ich hatte Hühner und Kühe gehütet und Kartoffeln gehackt. Aber ich hatte Angst vor diesem Jungen. Er hat mich immer wieder schikaniert und gelästert in der Annahme, dass ich es nicht verstehen kann. Deshalb bin ich nach kurzer Zeit am Sallasch auf die Straße gegangen um wegzulaufen. Die Frau ist mir nachgesprungen weil sie mich nicht hergeben wollte, o je. Sie rannte mir mit ihrem Hund nach, wollte mich festhalten. Der Hund glaubte, das sei ein Spiel und sprang neben mir her. Als die Frau das ‚Hundegehetze‘ aufgab, sprang ich in ein Maisfeld und habe mich ausgeweint und ausgeruht. Ich dachte, mein Herz springt mir aus dem Leibe bei dieser Jagd, ich hatte Todesangst gehabt. Nach einer Weile stand ich auf und ging weiter. Ich traf Leute, die ich auf Ungarisch fragte, ob sie wüssten wo mein Bruder ist. Sie wussten es. Ich traf ihn jedoch nicht an dem besagten Ort an, hörte aber, wo er Kühe hütete. Darauf hin bin ich bis zu meinem Bruder gelaufen. Als er mich sah fragte er, was ich will sagte ich ihm weinend, dass ich von dieser Familie abgehauen sei. Er erwiderte, dass ich nicht bei ihm bleiben könne. Daraufhin bin ich ins Dorf gelaufen und habe meine Mutter gesucht und auch gefunden. Sie war sehr überrascht als sie mich sah, wusste aber nicht, wo sie mich unterbringen sollte, da sie ja schon meine kleinere Schwester bei sich hatte. Ich musste immerzu weinen. Die Frau, bei der meine Mutter arbeitete, hatte Mitleid mit mir. Sie hatte ein kleines Kind und ich wurde nun die „Kindsmagd“. So verging etwa ein Monat bis man uns plötzlich sagte, dass wir über Nacht verschwinden müssen, weil die Telepes (Siedler?) gekommen wären.
Wir mussten weiter fliehen. Es muss etwa im Frühsommer1947 gewesen sein, als die ungarischen Posten uns nachts im Nebel über die Grenze nach Österreich führten. Mein Bruder Michael Seider wird unseren weiteren Fluchtweg aus Österreich nach Deutschland. Bei unserer Ankunft in Deutschland im Spätsommer 1947 war ich, 13jährig, bis auf 30 Kilo
abgemagert. Die Krätze, die ich im Vernichtungslager Jarek bekommen hatte, begleitete mich trotz ärztlicher Behandlung noch längere Zeit, bis sie verschwand. Gott sei‘s gedankt, dass ich das Grauen im Hungerlager Jarek und im Vernichtungslager Kruschiwl überleben durfte.
Dieser Erlebnisbericht von Eva Ziegelbauer geb. Seider wurde von Elfriede Korol (*1941 in Tscheb) verfasst. Die Aufzeichnungen entstanden 2014 in Ulm-Mähringen.